17 TAGE EUROPA | Donnerstag 2002-08-01 | FÜR IMMER VERBUNDEN
Der achte Tag: Chalon-sur-Saône/Beaunne/Besancon/Mulhouse/Freiburg i. B./Colmar
Losung am 1. August
„Nimm jeden Tag als ein Leben für sich.“
(Seneca)
In der Nacht gab es zum ersten Mal während meiner europäischen Reise leichten Regen und so fällt der Abschied von Chalon-sur-Saône nicht so schwer. Wieder auf den Landstraßen Frankreichs unterwegs, muss ich mir eingestehen, dass ich dieses Land liebe. Die Sonnenblumenfelder, (wie das eine kurz vor dem Dorf Le Gauchard), die zerfallenden Steinhütten auf den Feldern und natürlich immer wieder die Hinweisschilder auf diese und oder jene „Auberge“. So muss es einst Chris Rea ergangen sein, der in den 1980er Jahren immer und immer wieder durch diese Landstraßen gefahren ist, als er in Tonstudios in Frankreich seine Alben aufnahm, so lange, bis sie ihn zu seinem Album „Auberge“ inspirierten, dem besten Album seines Lebens, wahrscheinlich sogar: DEM Album seines Lebens, denn es steckt so viel Autobiografisches darin. Auch sein Lebensweg war wie eine französische Landstraße.
Zuerst von dem Album gehört habe ich im Februar 1991 in Wales. Da war es gerade erschienen und gleich auf die Nr. 1 in den britischen Charts geklettert. In einem BOOTS-Geschäft war es, als ich mir das Album zum ersten Mal anhörte. Ich fand es damals allerdings nicht wirklich überzeugend, dachte, Chris Rea wäre früher besser gewesen. Schon damals war ich seiner Musik nicht abgeneigt, aber ich war kein treu ergebener Knappe des englischsten Italieners oder des südländichsten Iren, den ich als Musiker kannte.
Meine Liebe zu ihn und seiner Musik entflammte erst Anfang Mai 1993 bei einem Besuch im Elsaß. Mit meiner Frau war ich dort und mit Freunden, die den Kurztrip organisiert hatten. Gleich am ersten Abend gingen wir zum Abschluß noch in einen kleinen Klub in Colmar. Ganz so, wie man sich einen kleinen intimen Club vorstellt, in den nicht jeder hereingelassen wird. Eine kleine Klappe in der Eingangstür ging hoch, jemand musterte uns und öffnete dann die Tür. Drinnen im Club waren vielleicht fünfzehn Personen, saßen auf Stühlen, an der Bar oder in Sesseln. Viel mehr passten wohl auch nicht in den Club hinein – es war eben ein kleinen, intimer Club. Aber es lief gute Musik im CD-Spieler. Die kannte ich doch? „Auberge“?
Ich war mir anfangs nicht sicher, denn plötzlich gefiel mir jede einzelne Note, jedes Wort, jede Metapher von Chris Rea. Den zumindest hatte ich an seiner Stimme und dem Gitarrenspiel erkannt. Daran, dass mit „Auberge“ plötzlich außerordentlich gefiel, konnte auch der Alkohol nicht schuld sein, denn ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch kaum etwas getrunken. Nein! Wahrscheinlich war es einfach diese Nacht in Frankreich, im Elsaß, der Moment,in der es passieren sollte. Mit einem Mal entstand meine Liebe und Verehrung zu Chris Rea. Und Colmar ist somit für mich und für immer mit seiner „Auberge“ verbunden.
Bevor ich heute nach Colmar fahren kann, muss ich aber noch die angekündigte Stippvisite in Freiburg einbauen; sie soll maximal eine halbe Stunde dauern – gerade so lange, damit ich mein Paket, das inzwischen bereits verdächtig nach Käse riecht, zur Post bringen kann. Ich verlasse das Parkhaus am Bahnhof, gehe direkt in die Innenstadt und denke mir: Wo kann ich hier schnell eine Poststelle finden?
Vor einer Buchhandlung sehe ich eine ältere Frau und spreche sie an. Ob sie mir den Weg zur Post beschreiben könne. Ja, sagt sie und versucht mir klar zu machen, wie schwierig es heutzutage sei, eine Poststelle zu finden, da die sich jetzt auch in Schreibwarengeschäften befänden, weil die Deutsche Post immer mehr Filialen schließt. Dann aber sortiert sie sich wieder, ich schaue ja bereits streng auf meine Uhr, und erklärt mir den Weg zur nächsten Post und ich bedanke mich bei ihr. Gerade als ich mein Paket wieder unter den Arm nehme und weggehen will, spricht sie mich an und fragt mich, ob ich ihr nicht eines ihrer Bücher abkaufen möchte. Erst jetzt bemerke ich, dass sie die ganze Zeit über zwei Bücher in der Hand hält.
Ich schaue mir die Bücher an: „Menschen-Glück“ und „Wechselnde Bäume-Träume“ heißen sie und sind von Mike Korff. Mike…Korff? Ich kann mich zwar lebhaft daran erinnern, dass ich selbst eine Kunstfigur geschaffen habe, die ich Karl David Korff benannt habe. Aber dass dieser mir gegenüber irgendwann einmal von seiner Mutter oder Tante gesprochen haben könnte, daran erinnere ich mich nicht. Wie könnte denn überhaupt die Mutter oder Tante von einem so bekannten Musiker heißen? Vielleicht so ähnlich, wie eine berühmte Wagner-Enkelin. Nike, vielleicht. Nike Wagner? Und diese Frau heißt Mike Korff? Könnte diese real existierende Frau tatsächlich irgend einen Bezug zu meiner Kunstfigur haben? Mir scheint, dass ich in Freiburg eben gerade dabei bin, eine überraschende Entdeckung zu machen. Und dafür schmeiße ich gerne meinen Zeitplan über Bord.
Ich frage die Frau, die mir immer noch ihre Bücher entgegen hält, ob wir uns nicht setzen wollen. Sie stimmt zu. Wir setzen uns an ein Blumenbeet und sie fängt unaufgefordert an zu erzählen: über ihr Leben, über ihre Bücher. Geselle sei sie gewesen und das nütze ihr heute noch, da sie doch ein kleines Atelier habe und dort an einer Skulptur arbeite. Vieles habe sie in ihrem Leben schon gemacht, berichtet sie mir. In einem Museum gearbeitet, Bücher geschrieben, gezeichnet, gemalt, entworfen. Nun führe sie ein bescheidenes aber gesundes Leben und versuche die Menschen anzusprechen und auf ihre Bücher und Cassetten mit selbstkomponierten Liedern aufmerksam zu machen. Es ist unglaublich: mit einem Mal und unverhofft sitzt neben mir eine Frau, die mit Nachnahmen Korff heißt, passend zu meiner Kunstfigur für ein Buch über Rockmusik, die ich vor wenigen Monaten erst erdacht habe und sie könnte der bisher fehlende Schlüssel in Karl David Korffs Leben sein. Und das Erstaunlichste ist: Diese Frau gibt es tatsächlich und ich sitze gerade eben neben ihr, kann sie alles fragen, was ich fragen will, im Sinne meiner Buch-Story fragen muss.
Und so verbringen wir fast einen halben Tag miteinander, reden über Pflanzen, über die Gesundheit, über alte Philosophen, über Gott und die Welt – so wie sie ist und so wie sie sein sollte. Frei zitiert sie Seneca, den im Jahre 4 vor unserer Zeitrechnung, also zur gleichen Zeit wie Jesus, geborenen römischen Staatsmann, Erzieher und Berater von Caesar Nero, der aber auch Philosoph stoischer Geisteshaltung war: „Belaste Dich nicht mit viel Gepäck. Nichts von dem, was wir haben ist notwendig. Kehren wir zurück zum Gesetz der Natur und unser Reichtum liegt bereit. Was wir notwendig haben ist umsonst oder die Natur. Brot und Wasser verlangt die Natur. Darum ist niemand arm. Wer darauf seinen Bedarf einschränkt, mag mit Jupiter selbst wetteifern an Glückseligkeit.“
Auch die anderen Weltphilosophien sind Frau Korff nicht fremd. Mike sagt, sie habe festgestellt, dass Elefanten gerne angebunden seien, damit sie nachts, wenn sie traumwandeln aus nicht Versehen in Gruben fallen können. Auch Schweine, sagte Mike, seien allgemein schlauer als man dächte. Und dann singt sie mir ihr „Lied vom schlauen Schwein“.
Ich erzähle ihr nun von meiner Reise und wir müssen lachen, als sie erfährt, dass auch ich schreibe und Musik komponiere. Am Ende kaufte ich ihr zwei Bücher und eine Cassette ab und als wir uns verabschieden und mir Mike zum Abschied ihre linke Hand reicht, an der sie einen weißen Handschuh trägt, sagt sie zu mir: „Ich habe ihnen meine Adresse in das eine Buch gelegt. Es war so schön mit Ihnen zu reden. Jetzt sind wir für immer verbunden.“
Als ich am späten Nachmittag nach Colmar fahre muss ich dauernd an Mike und an Chris denken, an Colmar, die Musik, die Literatur, die Kunst und an das, was alles miteinander verbindet. Für immer.
Nachtrag zu Freiburg:
Was man durchaus nicht unerwähnt lassen sollte, ist die Tatsache, dass die Regierung der Bundesrepublik Deutschland in einem Stollensystem in der Nähe von Freiburg seit Jahrzehnten die Geschichte ihres Landes einlagert. Vor nuklearen Strahlen wie vor saurem Regen geschützt, hat sie Deutschlands Wissenschaft, Musik, Literatur, Kunst und das, was alles miteinander verbindet, ordentlich auf Mikrofilmen archiviert und in Stahlhülsen einschließen lassen. In einer Art Fort. Für spätere Generationen. Für immer.
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