17 TAGE EUROPA | Montag 2002-08-05 | STRANDGUT (Teil Eins)
Der zwölfte Tag: Raststätte Hünxe/Arnheim/Apeldoorn/Meppel/Herrenveen/Sneek/Ijsselmeer/Den Helder
Losung am 5. August
„Man kann die Menschen in zwei Gruppen einteilen:
Bei der einen ist der Hut für den Kopf da,
bei der anderen der Kopf für den Hut.“
(Jacques Tati)
Ich ging gestern Abend früh schlafen und werde deswegen heute morgen früh wach. Und der frühe Vogel fängt den Wurm, um es mit den Amerikanern zu sagen – aber zu den Amerikanern komme ich später noch.
Holland bzw. die Niederlande hatte man aus dem Schulunterricht noch als recht kleines Land in Erinnerung und wird auch nicht enttäuscht. Kaum den dritten Gang eingelegt und schon ist man (sinngemäss) durch. Aber das macht den niederen Landfrauen und -männern nichts aus. Anders als in andere Nationen hatte man hier niemals das Bestreben gehabt, Krieg gegen andere Länder zuführen um sein eigenes Land zu vergrößern. Lieber kämpft man mit dem Meer und ringt ihm Quadratmeter um Quadratmeter ab. Doch, doch: im Kampf mit dem Meer, da kennt man sich aus.
In den Niederlanden gibt es auch eine Königin und die Untertanen haben die Chuzpe besessen, die Königin in einer unbeschreiblichen Portraitversion auf allen niederländischen Euromünzen abzubilden. So ist Holland – was soll man mehr sagen?
Ich habe mich für eine Route durch die Niederlande entschieden, die von Arnheim in Richtung Norden führt und am Ende das Ijsselmeer von oben trifft. Interessamt ist der Riesendeich zwischen Haarlingen und Den Helder mit seinen riesigen Gezeitenschleusen, voll befahrbar als vierspurige Straße mit einigen Parkplätzen, um entweder das Meer oder die Binnensee zu betrachten. Obwohl es so etwas auch bestimmt in Holland gibt, habe ich bislang keine Eisenbahn gesehen; die einzigen Übergänge der Straßen waren für Schiffe und Boote und entweder klappte die Straße dann in die Höhe oder sie wurde so gedreht, dass die Schiffe bequem durchfahren konnten. Und interessanter weise dauert das ganze Prozedere auch nicht länger als wenn ein Zug die Straße gekreuzt hätte.
Ich warte und fahren und dann sehe ich das Meer wieder. Vom Mittelmeer hatte ich mich gerade erst verabschiedet und nun ist es schon wieder da. „Hallo Meer“, rufe ich zu ihm und mache einen kurzen Halt, bevor der Damm zwischen der Nordsee und dem Ijselmeer beginnt. Viele Holländer stehen schon auf dem Rastplatz und haben Stühle und Tische aufgeklappt, als wollten auch sie dem Meer huldigen. Nur ein augenscheinlich gut situiertes Ehepaar mit großem Mercedes und noch größerem Wohnwagen (dessen Kennzeichen verrät, dass es Deutsche sind) stört die Ruhe etwas und bringt den Nordseewind, der einem um die Ohren bläst, ein wenig zum Schweigen.
Der Grund für des Windes Schwiegen ist für alle Beteiligten auf dem Parkplatz einfach zu erkennen: die Frau macht Fahrversuche mit dem langen Vehikel, der Mann gibt Anweisungen. Sie fährt immer und immer wieder im Kreis, manchmal vorwärts, dann wieder rückwärts. Es geht hin und her und her und hin. Der Wohnwagen ist wirklich lang.
Einige Holländer haben schon rote Bäckchen bekommen – sei es vom Neid wegen der Länge des Wohnwagens oder vom Mitleids wegen der Länge des Wohnwagens, wer kann das schon so genau sagen. Das Wetter ist jedenfalls herrlich. Drei Mal öffnet sich die Brücke, lässt Schiffe in das Ijselmeer hinein und andere hinaus. Ein beeindruckendes Schauspiel, jedenfalls für Menschen, die gerade keine Fahrversuche mit einem langen Vehikel machen.
Wahrscheinlich, denke ich mir, war es zuhause nicht möglich zu trainieren, ohne dass das gesamte Wohngebiet zugeschaut hätte. Hier jedenfalls, in der Heimat der Wohnwagen, ist man sozusagen unter sich, denken wahrscheinlich der Mann und seine Frau. Ich muss weiter und kann deshalb nicht berichten, wie es weiter gegangen ist. Ich denke, alle, auch der Wohnwagen, haben es am Ende überlebt.
Über den Damm fahre ich weiter nach Den Helder, zur Sommerfrische Amsterdams. Leichter Regen setzt ein und ist auch schon gleich wieder verschwunden. Auf dem Parkplatz vor den Sanddünen fällt mir ein weiteres ein deutsches Ehepaar auf. Präziser ausgedrückt: Mir ist eine deutsche Familie aufgefallen mit ihrem VW Sharan. Ein Ehepaar aus Limburg an der Lahn mit zwei Kindern, einen kleinen Sohn und einer großen Tochter.
Es hatte, wie gerade beschrieben, kurz zuvor geregnet und das trieb die vier Deutschen zur Eile. Die versammelten Niederländer dagegen, die ebenfalls auf dem Parkplatz ihre Autos geparkt hatten, packten interessiert ihre Klappstühle auf und bildeten das Publikum für die nordischen Wagner-Festspiele.
Zuerst erlitt die Mutter eine Art leichten Nervenzusammenbruch, da ihr Sohn zuerst in eine Pfütze getreten hatte und alsdann unbekümmert in den Volkswagen einzustiegen versuchte. Ein Raunen geht durch das Publikum, was wohl ausdrücken soll: Die Deutschen, die können so etwas eben, also mal kurz am Strand eine komplette Oper aus dem Ärmel schütteln.
„Ann-Kathrin, mache bitte Deinem Bruder den Fuss sauber, aber dalli. Und Du (Mutter blickt auf den Ehemann) fährst jetzt das Auto so, dass wir nicht die ganze Zeit im Nassen stehen.“ Der Gatte tut es und erntet reichlich Lob…nicht vom Publikum, sondern von seiner Frau. „Günther, ich sagte doch, Du sollst das Auto so hinfahren, dass es nicht im Nassen steht.“ Die Frau sprach so gewählt und deutlich, dass alle Holländer ihre Worte ohne Probleme verstanden. Bedankt!
Leicht nervös geworden, macht der Vater einen zweiten Versuch. „Also, was soll denn das jetzt wieder sein, Günther?“, fragt die Walküre mit leicht strengem Ton in ihrer Stimme. Wütend lässt der Ehemann daraufhin im nassen Grass die Reifen durchdrehen, was das Publikum mit leichtem Gelächter quittiert, bevor er sein Kraftfahrzeug mitten auf die Zufahrtsstraße stellt. Ein wahrlich trockener Ort – es gibt verhaltenen Beifall. Verhalten deshalb, weil einige unverbesserliche Holländer, die dem Schauspiel partout nicht beiwohnen wollten, gerade in diesem Moment den Parkplatz verlassen wollten, es aber nicht schafften, denn der zweite Akt beginnt (ganz offensichtlich ist dies eine moderne Kurz-Oper).
„Ann-Kathrin, hast Du Deinem Bruder den Fuss sauber gemacht?“ Ann-Kathrin nickt. „Lüg‘ mich nicht an“, schreit die Mutter voller Inbrunst. „Der Fuss ist ja immer noch nicht sauber.“ Sie dreht sich theatralisch um und blickt von der Bühne in Richtung des Publikums – die Inszenierung hätte auch aus Bayreuth sein können. „Se-eeht nuuhr“, würde sie im Festspielhaussingen, „die ganzen Holländäär schauen schon zu-uuh. Ja bin ich denn nu-uuhr mit Idioten zusa-mmen. Wegen Eu-eu-euch muss man sich ja in Holland schä-ähmen.“
Der Chor der Holländer schüttelt den Kopf und macht besänftigende Handbewegungen. „Ach“, singen sie, „wegen uns doch nicht. Wegen uns doch ni-iicht.“ Der Junge indes, dessen Name mir bisher leider verborgen geblieben war, steigt nun ein. „Paß bloss auf, Du alter Schwede“, singt die Walküre. „Nachher ist wieder das ga-ahanze Auto versaut. Und we-eehr darf das dann wieder sauber machen?“ Die Holländer im Pulikum ahnen jetzt, dass der Junge gar nicht aus Deutschland stammt sondern ganz offensichtlich Skandinavier ist. Zudem ahnen sie, dass sein Aussehen vermeintlich ein Alter vortäuscht, das der junge Mann wahrscheinlich schon um ein Vielfaches überschritten hat. Alter Schwede! – Es folgt sogleich der letzte Akt des Schauspiels.
„Ann-Kathrin, was ist mit Deinen Füßen? Du warst doch auch im Matsch.“ Nein, Mutti, war ich nicht. Stimmt. Das kann ich als unabhängiger Zeuge bestätigen, Wie ich auch anmerken muss, dass die kleinen Pfützen hier nicht wirklich dreckig sind, sich vielmehr fast schon zum Säubern von Schuhen eignen. Die Walküre erstarrt derweil bei diesen Worten des Mädchens, scheint einer Ohnmacht nah. „Zu Hülf, zu hülf, zu Hülf. Rettet sie, rettet sie, so rette sie doch“, scheint der Chor der Holländer zu skandieren. Was eine gewisse dramaturgische Übertreibung meinerseits ist – ich gebe es zu -, denn die Holländer sind in der Tat sprachlos.
„Hast Du das gehört? Hast Du gehört, was Deine Tochter eben gerade zu mir gesagt hat? Hast Du das gehört. Nun sag doch auch mal was, Günther!“ – Die Holländer halten weiterhin gebannt-gespannt die Luft an. Was wird Günther zu seiner Tochter sagen, um die Mutter zu rächen? Was wird geschehen?
Ich muss sie an dieserStelle leider etwas enttäuschen, denn nicht alle Deutschen sind theatralisch. Der Fortgang des Schauspiel ist eher unspektakulär, denn Günther sagt zu Ann-Kathrin, dass sie ihre Füsse sauber machen soll. „Da hörst Du es, Kind“, säuselt die Walküre. „Papa hat es auch gesagt, dass Du Deine Füsse noch sauber machen musst.“ Die Stimmlage entspannt sich. Erleichterung beim Publikum, verhaltener Applaus, am Rande des Spaltakels warten derweil immer noch drei Holländer-Gespanne darauf, dass die Straßenblockade aufgehoben wird.
Noch einmal dreht sich die Mutter zum Publikum und spricht „Ich weiss gar nicht, was es da zu gaffen gibt“, bevor sie, ohne ein „bedankt“ für die Geduld der wartenden Autofahrer, in ihr Fahrzeug aus Limburg an der Lahn einsteigt. Mit ungereinigten Schuhen, versteht sich – dafür jedoch mit einem reinen Gewissen. Einem reinen Gewissen, immer und stes nur das Beste zu wollen für ihre über alles geliebte Familie.
Nur wenig später fährt der Sharan von dannen, beladen mit einer vollauf glücklichen Familie, einem noch viel glücklicherem Verlauf des weiteren Urlaubs entgegen. Das Volk zerstreut sich, der Versammlung löst sich auf. Jacques Tati, der von oben Regie geführt hat, verschwindet hinter einer Wolke und auch ich fahre los in Richtung meines Campingplatzes in Callantsoog.
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