17 TAGE EUROPA | Dienstag 2002-08-06 | TAUSAND TRÄUME
Der dreizehnte Tag: Den Helder
Losung am 6. August
„Es gibt schlimmere Verbrechen, als Bücher zu verbrennen.
Eines davon ist, sie nicht zu lesen.“
(Ray Bradbury)
Der Morgen bringt eine Überraschung: In einem wolkenlosen blauen Himmel brennt die Sonne und es ist fast so heiss wie in Südfrankreich. Das ist zumindest ungewöhnlich, nach dem leichten regen der letzten TAge. Heute will ich die einzelnen Küstendörfer inspizieren. Zwischen Den Helder und dem etwa 40 Kilometer südlicher gelegenen Alkmaar gibt es eine Menge davon. Von unten nach ober sind dies Orte wie Bergen und Schoorl, Camperduin, Petten und Sint Maartenzee, Callantsoog (auf dessen Zeltplatz ich genächtigt habe, t’Zand, Groote Keeten und Julianadorp. Und genau hier möchte ich Eindrücke und Ideen für ein Buch sammeln, das auf einem andern Buch aufbaut, das ich als Kind abgöttisch geliebt habe: J. G. Ballards „Die 1000 Träume von Stellavista (und andere Vermilion Sands Stories“.
Ballards Sammlung (die im Original „Vermilion Sands“ heißt / deutsch: „Zinnober Strand“) beinhaltet SF-Geschichten, zu der ich schon 25 Jahren als junger Musiker Lieder und Liedtexte schrieb (darunter z. B. 1977 „Fable Man“ und „Drakeman“ für meine damalige Band „Melvin Dawson and Friends). Seit Mitte der Neunziger Jahre wollte ich eine eigene Geschichtensammlung zusammenstellen, die eine Fortsetzung des Buches werden sollte – sozusagen „VS Revisited“ -, aber es kamen bislang nur zwei Geschichtenfragmente dabei heraus: „Das Herrenhaus“ und „Sunder Bay“.
Zu meinen Schriftsteller-Glück fehlte mir vor allem die Inspiration für den Küstenort „Vermillion Sands“, mit seinen roten Sanddünen, ganz so wie man sich cen Mars vorstellt, auf den sich die menschen ab und an hinträumen und dessen rote OPberfläche inzwischen ja von den Fotos der Raumsonden „Viking“ und „Pathfinder“ bestätigt wurde. Hier an Hollands Küste war ich auf der Suche nach Inspirationen und Eingebungen für die nächsten fünf Geschichten.
Mit dem Abstand des Abends, tippe ich diese Zeilen in meinen IBM-Laptop, der mit feinem Sand überzogen ist, den der Wind auf ihn geweht hatte, während ich meine einzelnen Geschichten am Strand ausdachte. und hier sind sie: meine Ideen und Inspirationen für den Küstenort „Zinnober“ im meinem kommenden Buch „Tausand Träume“.
Vorwort: Zinnober heißt ein Küstenort, irgendwo in der Zukunft, der seinen Namen von der Farbe seiner Sandstrände und Dünen erhielt. Auch in der Umgebung von Zinnober wirkt alles, wie eine Landschaft auf dem Mars, wäre da nicht der azurblaue Himmel und das tiefblaue Meer. Diese Kombination aus Rot und Blau hat Zinnober einst berühmt gemacht. Viele Jahrzehnte lang war „Zino“ der globale Trend-Urlaubsort schlechthin; aus der ganzen Welt kamen die Schönen und Reichen um hier einen Teil ihres Jahres in wohliger Dekadenz zu verbringen.
Doch die „rot-blau-goldenen Zeiten“ – wie man sie nannte – sind nun auch schon einige Dekaden her. Jetzt ist Zinnober abgerutscht in der Beliebtheitsskala, hat sogar schon fast die Phase des Massentourismus hinter sich gebracht und träumt trotzdem weiter von der guten alten Zeit. Dies allerdings im Angesicht von Gewalt, Umweltzerstörung, Entfremdung und einem allgemeinen Unbehagen angesichts der nur scheinbar funktionierenden Gesellschaft, die sich schon fast überlebt hat.
Damit dieser Ort nicht in Vergessenheit gerät, schrieb ich dieses Buch, aus dem hier als kleine Appetithappen eine kurze Abhandlung der einzelnen Plots für einzelne „Tausand Träume“ folgen:
Es folgt der Plot für Kurzgeschichte # 1: DRAKEMAN, DER DRACHENMANN = Drakeman ist keine sechzehn Jahre alt. Seit seinem 12 Lebensjahr fliegt er, nur mit einem einzigen Seil am Boden fixiert, in einem Spezialanzug durch die Luft am Strand vor Zinnober. Und er verbessert den Anzug immer weiter. Waghalsige Flugabenteuer sind seine Spezialität. Viele Mädchen bewundern ihn und schauen aus Spass zu, von den reichen Urlaubern aber, die zuschauen, sammeln seine Helfer am Boden sammeln Geld ein. Drakeman aber träumt nicht von Geld oder Bewunderung. Ein alter Indianer hat ihm von „El Nondo Mondo“erzählt, DER Windböe, die es nur einmal im Leben gibt und die einen Menschen, der das Fliegen beherrscht, so wie Drakeman, um die ganze Erde tragen kann. Das ist Drakemans Tausand Traum: Wenn „El Nondo Mondo“ kommt, dann wird er in der Luft sein, das Seil kappen und davonfliegen. Nicht für Geld, nicht für die Bewunderung über seinen Mut, sondern nur für sich allein.
Dies ist der Plot für Kurzgeschichte # 2: SUNDER BAY = Hier baden bevorzugt Sünder, denn man erzählt sich, dort könne man sich von seinen Sünden reinwaschen, wenn der Milchmond scheint. Doch wo bleiben die Sünden danach? Wirklich am Meeresboden, wie es die Legende besagt?
Der Plot der Kurzgeschichte # 3: ALS DER GROSSE REGEN KAM = Eines Tages fing es in Zinnober einfach zu regnen an und es hörte und hörte nicht auf. Zuerst finden das alle spaßig, dann aber, als viele Gäste ihre Buchungen stornierten, machen sich die Bewohner von Zinnober Gedanken, warum es zu dm Regen kam: sollte er etwa eine Gottesstrafe sein? Während geschäftstüchtige Einwohner aus der Not eine Tugend machen, die Stadt kurzerhand in „Zinnobad“ umtaufen und ihre Gäste mit neuen Angeboten wie Regentanz und Tropfenmassage anlocken, geht ein Bewohner der Sache auf den Grund. Was er herausfindet ist gar nicht gut für die Stadt.
Es folgt der Plot für Kurzgeschichte # 4: ZIRKUSDEPHINE = Die Idee für die Geschichte ist ein Nachzügler und entstammt einer Zeitungsmeldung der 90er-Jahre: Der Wanderzirkus „Baya Marino“ zieht durchs Zinnober-Land nach dem Motto: Man nehme einen Bagger, grabe ein Loch in den Sand, lege das Loch mit einer Folie aus und lasse ein paar tausend Liter Wasser hineinfließen. Dann kippe man eine gute Prise Kochsalz und Chlorid hinein und fertig ist das Delphinarium, in dem die Zirkusleute Delphine und Seelöwen tanzen lassen. Schon bald hat das Mädchen Solitude Visionen. Sie glaubt, die Delphine des „Baya Marino“ würden geistigen Kontakt mit ihr aufnehmen. Sie berichten ihr, daß sie am Tage stundenlang in sengender Hitze in einem winzigen dreckigen Wasserloch ausharren müssen, dessen Wassertemperatur subtropische Werte hat. Und nur deswegen machen sie am Abend als Ausgleich die ganzen Kunststücke: Bälle fangen, durch brennende Reifen springen, im seichten Wasser tanzen. Solitude beschließt, ihnen zu helfen.
Der Plot für Kurzgeschichte # 5: SYMBIOSE = Die „Law & Order Company“ ist seit einem Jahr in der Stadt. Sie sucht in der Nähe der drei großen Dünen nach Gold – und findet es tatsächlich auch. Es dauert nicht lange und ganz Zinnober wird von Glücksrittern heimgesucht. Officer Maurice Millier von der Beachpolice kommen Zweifel an den Goldfunden, er vermutet einen großangelegten Schwindel. Überrascht stellt er fest, dass die L&O-Company von einer jungen Frau namens Stacy Grove geführt wird, der alle Männer zu Füssen liegen. Er ist sich sicher, die junge Frau früher schon einmal gesehen zu haben und entdeckt dabei eine „Symbiose“. Doch auch Maurice Millier verfällt Stacy und erkennt, dass sie sein Schicksal sein wird. Am Ende ist Stacy Grove genau so schnell aus Zinnober verschwunden wie sie gekommen war. Nur für Maurice hat sich das Leben verändert. Er sucht verzweifelt nach Gold und nach Stacy.
Dies ist der Plot für meine Kurzgeschichte # 6: DIE WELLENREITER VOM ZINNOBER STRAND = Am Strand von Zinnober gibt es einen neuen Sport: Das Wellenreiten auf dressierten Delphinen, deren Abrichten extrem teuer ist, weshalb sich diesen Sport nur die Superreichen leisten. Jeden Abend sitzen einige tausend Menschen am Strand und beobachten den bizarren Wettstreit; Wetten werden angenommen. Bei den Beckerich Brüdern Burt und Geryon (die zwar den gleichen Vater haben – Ray Beckerich ist Milliardär und DER Getränkebaron des Landes -, jeder der beiden hat aber eine andere Mutter) ist der Ehrgeiz erwacht, den anderen zu besiegen, selbst wenn sein Tod der Preis für den eigenen Sieg sein sollte. Nicht einmal der Vater und die Mütter können etwas dagegen ausrichten. Und so kommt es eines Tages unweigerlich zum Showdown am „Love Beach“.
Es folgt der Plot für Kurzgeschichte # 7: DAS HERRENHAUS = Häuser können Geschichten erzählen; in machen Gebäuden spuken Gespenster umheres. Was aber, wenn Häuser wahre Geschichten erzählen, und hierzu einen shakespearesken Spuk veranstalten? Auch hiervon erzählt einer meiner „Tausand Träume“.
Alles in allem großartige Plots (wie ich finde) für atemberaubende Geschichten eines neuen Buches über meinen Lieblingsküstenort der Zukunft: Zinnober aka Vermilion Sands. Ausgedacht und niedergeschrieben am Strand von Groote Keeten am 06. August 2002. Und nach einem unglaublichen rot-glühenden Sonnenuntergang – ein Gewitter war im Anmarsch und durch den einsetzenden leichten Regen wurde der Sonnenuntergang immer flammender / vielleicht ist es aber auch nur die Erinnerung an ein Ereignis in Japan, vor 47 Jahren – schlafe ich nun in meinem Auto (das Zelt ist bereits verstaut) müde und zufrieden ein. Der Regen plätschert auf das Autodach und ich denke an „Als der große Regen kam“. – Großartig!
« Der Litauische U20-Basketball-Nationalspieler Jokubas Gintvainis wechselt nach Jena „Nach zehn Jahren endlich am Ziel“: ESA-Raumsonde „Rosetta“ erreicht heute „ihren“ Kometen »