17 TAGE EUROPA | Samstag 2002-08-10 | RÉSUMÉ
Der letzte Tag: Wertheim/Würzburg/Nürnberg/Bayreuth/Jena
Losung am 10. August
„Ich möchte Weltenbürger sein,
überall zu Hause und überall unterwegs.“
(Erasmus von Rotterdam)
Re|sü|mee auch: Ré|su|mé oder: Re|süm|e = Zusammenfassung, Fazit, Übersicht. Darum geht es. In Wertheim herrscht strömender Dauerregen und der findet kein Ende. Um kurz vor sechs Uhr bin ich aufgestanden und sitze jetzt, kaum dreißig Minuten später in meinem Auto bereits am Laptop und bereite mich darauf vor, eine kurze Bilanz von 17 Tagen Europa zu ziehen. Heute Nachmittag fahre ich nach Hause und bevor ich in Jena über die Reise berichten werde heißt es: die Tage und Erlebnisse zu sortieren.
1.) Der IBM-Laptop war mir ein zuverlässiger Begleiter in den letzten siebzehn Tagen, manchmal vielleicht ein bißchen zu lässig, denn es gab keinerlei technische Probleme. Strom kam überwiegend vom 12V/220V- Spannungswandler und während der Autofahrt lud sich die Autobatterie immer wieder voll auf. Auch der Mercedes 300 E bereitete mir nicht die geringsten Probleme, trotz der rund 4.700 Kilometer an zurück gelegter Strecke. Mein Zelt hielt dicht und die Reisekasse hatte immer genug Reserven für alle Fälle.
2.) Mit meinem schwarzen Parker-Füller habe ich ebenfalls geschrieben, darunter auch Briefe an meine Nichte (die schon mal auf dem Hausboot der Kelly Family für diese gekocht hatte), da sie sich vor der Reise allgemein bei mir darüber beklagt hatte, dass sie so wenig Post von mir bekäme. Und jetzt hat sie gleich drei Briefe von mir aus 17 Tagen Europa, mit drei verschiedenen Briefmarken darauf, alle mit Beträgen in Euro und doch alle unterschiedlich in Aussehen und dem jeweiligen Beförderungsbetrag – hier ist Europa also noch nicht zusammengewachsen. Auf mein Handy hat sie mir eine SMS geschickt, dass alle Briefe gut bei ihr angekommen sind und ich rate ihr, diese Briefe nach Möglichkeit aufzuheben, denn wer weiß, was sie später noch einmal wert sein könnten. Meine Familie und einige andere Menschen aus meinem Umfeld bekamen ebenfalls Briefe von mir und das Paket mit duftendem Käse hatte ich bereits früher erwähnt.
3.) Mein Handy war während meiner Reise fast immer ausgeschaltet gewesen. Hier gab es anfangs technische Probleme und später dann meinerseits ein klein wenig Angst vor zu hohen Verbindungskosten. (Für später geborene Leser meines Reiseberichts darf ich versichern: im Jahre 2002 gibt es in Europa in jedem Land eigene Telefonanbieter und die rauben ausländische Telefonkunden aus, sobald diese ihr Handy einschalten. „Roaming“ nennt sich das System des modernen Raubrittertums und als reisender Europäer ist man froh, hin und wieder noch auf das gute, alte Münztelefon zu treffen … das ihnen nun wahrscheinlich gänzlich unbekannt sein wird.) Sich bei der „Außenwelt“ zu melden, während einer Reise, ist natürlich obligatorisch und ich tat es tatsächlich via Münz-Telefon, aber vor allem durch Briefe, Postkarten, Reisegeschichten. Denn meine 17 Tage waren ja weder eine Flucht à la Goethe gewesen, noch eine Entdeckungsreise wie bei James Cook, sondern vielmehr der Versuch, Dinge, Menschen, Landschaften ganz subjektiv mit einander zu vernetzten und dadurch ein klein wenig besser zu verstehen.
4.) Für meine direkten Familienmitglieder habe ich aus Frankreich, Deutschland und Holland verschiedenste Wurst und Pasteten, Käse und Wein mitgebracht (wohlgeschützt in einer Kühlbox) und einige andere Sachen mitgebracht. Die liegen im Moment noch in einer Kiste, die heute abend hoffentlich in froher Erwartung ausgepackt werden wird.
17 TAGE EUROPA
Dante Alighieri erzählt in „Die göttliche Komödie“ die Geschichte einer Reise des Verstandes und als genau das hatte ich meine 17 Tage quer durch Europa auch gedacht. Denn in einer Zeit, in welcher dem Menschen Teile seiner Kultur und Gesprächsführung abhanden gekommen zu sein scheinen, in der in vielen Medien Floskeln und Phrasen von gut uninformierten Fragern fast schon als Versuche zu werten sind, Freundschaften zu schließen anstatt kritisch zu berichten (…im Übrigen unter der strikte Abkehr vom alten Grundsatz Hanns-Joachim Friederichs: „Immer dabei sein, nie dazugehören!“) – in einer solchen Zeit hat man einen Verstand ganz einfach auch einmal auf Reisen zu schicken. Basta!
Deshalb fehlt mir nach knapp zweieinhalb Wochen TV-Pause auch kein einziges verpasstes Interview, keine Quizshow, kein Nachrichtenüberblick. Gute Filme, die fehlen mir schon, aber die kann man sich im Leben immer noch einmal ansehen. Wohlwollend durfte ich feststellen, dass das Radio auf der Reise nach wie vor kein antiquiertes Informationsportal ist. Auch wenn ich – egal wo immer auf diesem Planeten – die ganze Welt auf einem einzigen Tablett jederzeit zur Verfügung haben könnte: ich würde mich immer wieder für das Radio entscheiden. Und genauso wie die Zeitung mehrere Jahrhundertsprünge ohne größere Schäden überstanden hat, wird auch das Radio zukünftig keinerlei Schaden nehmen. Allein, weil der Äther immer existieren wird und es so einfach ist, Radiowellen durch ihn und übe ihn auf eine Reise in menschliche Ohren zu schicken.
Als Gegenleistung kann der Empfänger wiederum, wenn er sich die richtige Quelle aus dem Äther fischt, viel aus ihr schöpfen. Geistig verdursten braucht heutzutage niemand. Doch: Jeder Mensch bekommt die Quelle, die Erleuchtung, den Radiosender, die TV-Sendung, das Buch, das er / sie / es verdient. Und jeder ist frei zu wählen, ob er kaltes klares Wasser zu sich nehmen will oder vielleicht einen Cocktail aus Waldbränden in den Vereinigten Staaten / Australien / Griechenland, gemnixt mit verschwundenen Babys / Gewaltverbrechen / ausgebrannten, schamlosen, millionenschweren SängerInnen in Dessous / Scheidung / Drogenrausch und abgeschmeckt mit sportlichen Fehl- und / oder Höchstleistungen, unmoralischen oder liebenswerten Politikern oder anderen Gesinnungsnomaden.
Gute eigene Musik hat mir ebensowenig gefehlt, die kann ich ja von nun ab wieder im JenaFarm Studio machen und auf meiner Reise sollte mich dieses Mal keine einzige selbstgespielte Note vom Schreiben abhalten. Gute Bücher hatte ich – mit Ausnahme meines alten DDR-Lexikons, dass mir während der 17 Tage so manch passende wie unpassende Antwort auf plötzlich aufkommende Fragen gegeben hat – nicht mit dabei, denn ich hielt es da mit Kafkas Franz, der 1904 in einem Brief an Oskar Pollak feststellte „Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben.“ – Die beiden Hesse-Bücher, erworben in der Wertheimer Buchhandlung Moritz und Lux, seien mit zum 40. Todestag Hesses ausdrücklich verziehen.
Jeder Mensch hat die freie Auswahl bezüglich dessen, was er mit seiner freien zeit anfangen will, sollte aber bereit sein zu akzeptieren, dass vieles, was uns heutzutage als „Das wahre Leben“ verkauft wird, nichts anderes ist als mentale Popmusik: Kreischend, intensiv, atemberaubend, aufgeilen … aber morgen schon wieder vergessen und vom Grunde her unwichtig. Ergo: Nicht lebensnotwendig!
Und natürlich: Immer wird sich auch ein Experte / Liedermacher / Talkshowgast finden, der attestiert, das, was uns die Medien vermitteln, sei eine erlaubte Ironisierung unseres Lebens. Aber, was viele dabei vergessen: Das da, was sich gerade um uns abspielt, das ist UNSER Leben! Oder (…und das sagen Sie jetzt bitte ganz laut zu sich selbst…): Das ist MEIN LEBEN! Und glauben Sie mir, wenn ish Ihnen sage: Jeder Mensch kann jederzeit sein Leben und dessen Umstände in irgendeiner Weise selbst beeinflussen. Er muss nur seinen Verstand auf Reisen schicken.
Schauen Sie sich nur den Film „Magnolia“ an, in dem es gegen Ende so stark regnet, dass Frösche vom Himmel fallen. Es scheint mir heute fast, dass es bald vor meinem Zelt ebenso weit ist – aber das nur nebenbei. Aber bitte merken Sie sich den Kernsatz dieses Films von Paul Thomas Anderson, der da heißt:
„Wir haben vielleicht mit der Vergangenheit abgeschlossen,
aber die Vergangenheit nicht mit uns.“
…in diesem Sinne…
Der Verfasser
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