„Raucher lebten länger“ oder: Die Alltagsgeschichte der Zigarette an der Front im Ersten Weltkrieg

08.11.14 • JEZT AKTUELL, START, WISSENSCHAFT, MEDIZIN & TECHNIKKeine Kommentare zu „Raucher lebten länger“ oder: Die Alltagsgeschichte der Zigarette an der Front im Ersten Weltkrieg

JEZT - Umschlaggrafik - Zigaretten-Fronten - Die politischen Kulturen des Rauchens in der Zeit des Ersten Weltkriegs - Abbildung © MediaPool Jena

(JEZT / FSU) – Im Horror der Schützengräben des Ersten Weltkriegs, inmitten von Gewalt, Tod und Verwesung, gab es wenig, woran sich Soldaten festhalten konnten. Einen gewissen Trost spendete ihnen allenfalls die Zigarette: Während die Welt um sie herum buchstäblich unterging, schuf der Rauch des Tabaks vorübergehend einen ganz persönlichen Raum des Rückzugs, eine vertraute Atmosphäre, die den allgegenwärtigen Geruch von Blut, Maschinenöl und Exkrementen fernhielt.

„Die Zigarette stützte den Soldaten und damit stützte sie auch den Krieg“, sagt Prof. Dr. Rainer Gries von der Universität Jena. Gries leitet den vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsverbund „PolitCIGs“. Der Historiker und Kommunikationswissenschaftler, der auch in Wien forscht und lehrt, untersucht mit seinem Team die politischen Dimensionen der Zigarette und des Rauchens.

JEZT - Buchumschlag - Zigaretten-Fronten - Die politischen Kulturen des Rauchens in der Zeit des Ersten Weltkriegs - Abbildung © MediaPool JenaDie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Jena, des Museums der Arbeit in Hamburg und der Sigmund Freud Privat Universität Wien legen nun erste Ergebnisse vor. Sie sind in dem Buch „Zigaretten-Fronten. Die politischen Kulturen des Rauchens in der Zeit des Ersten Weltkriegs“ zusammengefasst, das soeben erschienen ist.

Für die Soldaten an den Fronten des Ersten Weltkrieges war die Zigarette unverzichtbar. Im Fokus der Studie stehen die Alltagserfahrungen der Soldaten, ihre Ängste und Sehnsüchte, wie sie sich in Fotografien, Briefen, persönlichen Berichten und Romanen niedergeschlagen haben. „Wir zoomen ganz nah ran, sozusagen bis in die vorderste Stellung“, sagt Stefan Knopf von der Universität Jena, einer der Autoren. Im zivilen Leben wie an der Front sei die Zigarette ein Medium der Begegnung gewesen.

Das Rauchen von Zigaretten war für die Soldaten nicht nur ein kleines Refugium im dröhnenden Kriegsgeschehen, sondern zudem eine Brücke zu ihren Lieben zu Hause, zu den Frauen und Kindern, an der sogenannten Heimatfront. Und sie stellte auch eine Brücke in die Zukunft und in den Frieden dar. Die Zigarette, so Stefan Knopf, sei zur „besten Freundin“ des Soldaten geworden: Wo der Tabak-Nachschub stockte, erlahmte bald auch der Kampfgeist der Truppe.

Zigaretten als Medium der Begegnung bewährte sich sogar im Kontakt mit dem Feind. Mit Hilfe einer Zigarette konnten sich die Männer ohne Worte und dennoch bedeutungsvoll verständigen. So gehörte der Austausch von Tabakwaren ganz selbstverständlich dazu, als sich die gegnerischen Truppen beim vielbeschriebenen Weihnachtsfrieden 1914 über die Schützengräben hinweg die Hände reichten. Nicht selten wurden Zigaretten zudem als „letzte Gabe“ an sterbende Kameraden gereicht – vielfach auch dem darniederliegenden Feind.

Prof. Gries und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter plädieren dafür, auch und gerade der gesellschaftlichen Bedeutung von vermeintlich unscheinbaren Dingen nachzuspüren. In Kriegszeiten fielen der Zigarette wesentliche sozialpsychische und politische Aufgaben zu. Ohne diese qualmenden Stabilisatoren wären die Kriege des 20. Jahrhunderts nicht zu führen gewesen.

Bibliographische Angaben: Dirk Schindelbeck, Christoph Alten, Gerulf Hirt, Stefan Knopf, Sandra Schürmann = „Zigaretten-Fronten. Die politischen Kulturen des Rauchens in der Zeit des Ersten Weltkriegs“, Jonas Verlag, Marburg 2014, 176 Seiten, 96 Abbildungen, 25 Euro, ISBN: 978-3-89445-496-8. Weitere Informationen erhält man HIER.





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