Der 173. bis 175. Verhandlungstag im Münchner “NSU”-Prozess
Aus Pressemeldungen zusammengestellt von Annett Szabo-Bohr:
12.01.2015: Der 173. Verhandlungstag
Im Jahre 2015 eröffnete der 6. Strafsenat am Oberlandesgericht München mit drastischen Fotos und Angaben von Beamten des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen am 173. Verhandlungstag ein weiteres Kapitel im „NSU-Prozess“. Im Rahmen der Beweisaufnahme zum Nagelbombenanschlag des „NSU“ in der Kölner Keupstraße – dort hatten die Jenaer Terroristen Uwe Mundlos (†) und Uwe Böhnhardt (†) hatten am 9. Juni 2004 vor dem Haus Keupstraße 29 ein Fahrrad mit einer Nagelbombe abgestellt – wurden Beamte der Tatortgruppe des Landeskriminalamtes NRW befragt.
Die beiden befragten Beamten schilderten dem Gericht dabei ein grauenhaftes Bild. Auf beiden Seiten der Straße gab es beschädigte Häuser und Fahrzeuge, Gehwege und Fahrbahn waren übersät mit Glas- und Metallsplittern und den zehn Zentimeter langen Zimmermannsnägeln aus dem Innern der Bombe, einer Gasflasche, in der sich zudem die gewaltige Menge von 5,5 Kilogramm Schwarzpulver befand. Gegen 16 Uhr zündeten die „NSU“-Terroristen die Bombe; dass hierbei kein Mensch starb, sei fast schon ein Wunder, sagte einer der Beamten.
„Wir haben am Tatort 702 Zimmermannsnägel gefunden, die stark deformiert waren“, so ein Zeuge. Zwei Tage lang suchten die Experten des LKA den Tatort ab, Splitterreste der Bombe fanden sich noch in 250 Meter Entfernung von dem Explosionsort. Damit wurde auch klar, dass diese Bombe von Böhnhardt und Mundlos eine andere Dimension hatte, als die Rohrbomben, die man sechseinhalb Jahre vor dem Kölner Anschlag, in der Jenaer Bombenwerkstatt entdeckt hatte; einer Garage, die von der Hauptangeklagten im „NSU“-Prozess, Beate Zschäpe, angemietet worden war.
Klar wurde aber auch: Durch eine Ermittlungspanne des LKA Nordrhein-Westfalen waren die abgetauchten „NSU“-Terroristen nicht ins Visier der Kölner Ermittler geraten. Diese hatten 2004 die Rückwärtssuche zu Schwarzpulverbomben nach dem Anschlag in Köln zeitlich beschränkt auf fünf Jahre und damit war der Jenaer Fall von 1998 nicht in den Blick der Ermittler geraten. Im Prozess allerdings hält die Bundesanwaltschaft Zschäpe auch bei diesem Anschlag für eine Mittäterin, wie bei den zehn Morden und allen weiteren Verbrechen des „NSU“. Hierbei spielt u.a. das zynische Bekennervideo eine Rolle, in dem sich der „NSU“ unter dem Titel „Aktion Dönerspieß“ auch zu der Tat in Köln bekannt hatte.
13.01.2015 = Der 174. Verhandlungstag
An Tag 174 sagte zum zweiten Mal der ehemalige V-Mann des Brandenburger Verfassungsschutzes mit dem Decknamen „Piatto“ aus. Er hatte 1998 Hinweise auf Kontaktleute des kurz zuvor untergetauchten Trios aus Böhnhardt / Mundlos / Zschäpe gegeben. Wie bei der ersten Befragung sprach der Zeige jedoch nicht wirklich über damaligen seine Erkenntnisse aus der rechten Szene. Insbesondere gab er an, er könne sich an die Meldung zu dem Trio nicht mehr erinnern.
Ebenso lückenhaft war seine Erinnerung zu seinem Handy, auf dem eine verdächtige SMS eines Mitglieds der militanten Organisation „Blood and Honour“ war, mit dem Text: „Hallo, was ist mit dem Bums?“ – Diese Nachricht hatten Ermittler später als Hinweis auf eine Waffenlieferung an den „NSU“ gewertet.
20.01.2015 = Der 175. Verhandlungstag
Der 175. Verhandlungstag in München brachte schmerzliche Erinnerungen an den Kölner Bombenanschlag zutage. Melih K. und sein Freund Sandro D. sagten als Zeugen am Oberlandesgericht München ausgesagt. Sie sind die ersten Opfer, die der 6. Strafsenat zum Anschlag in der Keupstraße hörte, bei dem 2004 fast zwei Dutzend Menschen verletzt wurden.
Er habe neun Nägel abbekommen, sagt Melih K., und über 100 Splitter im Gesicht. Außerdem erlitt er durch die Stichflamme der Explosion Verbrennungen im Gesicht. Als Beleg zeigte der Strafsenat Fotos der Verletzungen. Die Detonation war so heftig, dass Nägel sogar über Hausdächer flogen und in Hinterhöfen landeten. „Ich hatte Nägel in den Beinen und im Rücken“, sagt Sandro D., „zwei Finger waren fast ab, ich hatte Verbrennungen“. Der 35-Jährige Deutsche musste wie Melih K. mehrere Operationen überstehen. Beide Opfer gaben an, noch heute unter Schmerzen zu leiden. Außerdem quäle sie, durch viele Narben entstellt zu sein, sagte beide unabhängig voneinander aus. Ebenso tragisch: Nach dem Anschlag musste Melih K. seine Ausbildung aufgeben, erst nach Jahren fand er wieder einen Job. Sandro K. hat bis heute keinen, befindet sich weiterhin in psychologischer Behandlung.
Am Nachmittag traten im Prozess zwei weitere Männer auf, die bei dem Anschlag schwer getroffen wurden. „Es waren mehrere Nägel und Glassplitter im Körper“, sagte Sükrü A. Der 59-Jährige hatte als Kunde in dem Friseursalon gesessen, vor dem das Fahrrad mit der Bombe in die Luft flog. Auf seiner Stirnglatze ist heute eine große Narbe zu sehen. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl befragte den Zeugen nach weiteren Folgen des Anschlags.“Ich habe Schwindelgefühle, kann nachts nicht schlafen, ich kann nicht in die Bevölkerung gehen, da krieg ich Panikattacken, ich schwitze“, sagte Sükrü A. und bestätigte, dass auch er sich immer noch in psychiatrischer Behandlung befinde.
Auch Kemal G., der letzte Zeuge des 175. Tages im „NSU“-Prozess, befand sich am Nachmittag des 9. Juni 2004 im Friseurladen. „Es knallte, alle Glasscherben sind auf uns runtergefallen“, erinnerte sich der 35-Jährige. Er habe gedacht, er würde in Kürze sterben, vor allem, weil man ihm im Krankenhaus Glassplitter aus seinem Kopf heraus operieren musste. 2007 verlor G. seine Arbeitsstelle, da er sich immer wieder wegen Nachbehandlungen krank melden musste.
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