Eine Studie der FSU Jena zeigt den Weg der Zigarette vom „sozialen Vergnügen“ zum Sargnagel auf
Die Zeiten, als der „Marlboro Cowboy“ noch unbeschwert über die Kinoleinwand ritt und sich genüsslich eine Zigarette anzündete, sind vorbei. Statt mit Freiheit und Abenteuer würden die meisten Menschen seine Botschaft heute mit Raucherhusten und Lungenkrebs verbinden. Das einst so lässig-weltläufige Rauchen hat seine Faszination eingebüßt – Rauchen ist nicht mehr chic.
„In den öffentlichen Debatten wird die Zigarette gerade zu Grabe getragen“, sagt Prof. Dr. Rainer Gries von der Universität Jena. Der Historiker und Kommunikationswissenschaftler leitete den vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten, interdisziplinären Forschungsverbund „PolitCIGs“, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Jena, des Museums der Arbeit in Hamburg und der Sigmund Freud Privatuniversität Wien gemeinsam seit Oktober 2013 drei Jahre lang die politischen Dimensionen des Rauchens und der Zigarette erforscht haben. „Unsere Kardinalfrage lautete: „Was genau ist das offen Politische und wo finden wir das versteckt Politische beim Rauchen im 20. und 21. Jahrhundert?“, so Rainer Gries.
Geschichts- und Sozialwissenschaftler sowie Psychologen verfolgten gemeinsam den Wandel der Gestalt und die Dynamik der Bedeutungen dieses flüchtigen Produktes seit dem 19. Jahrhundert. Während die Zigarette im Kaiserreich als Genussmittel der Moderne galt, war sie den Soldaten in den Schützengräben der Weltkriege eine unverzichtbare „Kameradin“. Die Forscher deckten die transnationalen Beziehungsgeflechte zwischen Tabakanbaugebieten, industriellen Vertretern und Konsumenten im 20. Jahrhundert auf, die sich in der Zigarette verdichteten. Sie zeichneten ihren alltagskulturellen und politischen Stellenwert in der DDR ebenso nach wie den gesundheitspolitisch induzierten Imagewandel in der Bundesrepublik.
Die Ergebnisse wurden in einer verbundeigenen Buchreihe gebündelt, in der jetzt zwei neue Bände erschienen sind: „Die Welt in einer Zigarettenschachtel. Transnationale Horizonte eines deutschen Produkts“ (Band 2) und „Als die Zigarette giftig wurde. Ein Risiko-Produkt im Widerstreit“ (Band 3). Dr. Gerulf Hirt, der Hauptautor des dritten Bandes, verweist auf den tiefgreifenden Wandel, den die Zigarette in relativ kurzer Zeit durchlaufen hat: „Wir spüren nicht nur der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Ebene nach, sondern schauen auch, wie tief und facettenreich sich die gesundheitspolitisch motivierte Kritik insbesondere seit den letzten fünfzig Jahren in die Produktsprache der Zigarette eingeschrieben hat.“ Es gehe nicht nur darum, wie die kommerzielle Werbung immer wieder auf sich ändernde Rahmenbedingungen reagierte, sondern auch um die Frage, wie sich Verpackungen, Zigarettenpapiere, Filter, Tabakmischungen und deren Inhalts- wie Zusatzstoffe veränderten und wie diese Modifikationen von Konsumentinnen und Konsumenten wahrgenommen wurden – so Gerulf Hirt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte zunächst der Wandel von der reinen „Orient“-Zigarette hin zur sogenannten American-Blend zu den radikalsten Revolutionen dieses „Risiko-Produkts“. Die neue Tabakmischung zwang die Raucher, tiefer zu inhalieren, was wiederum eine graduell höhere Abhängigkeit zur Folge hatte. Außerdem erhöhten sich damit die gesundheitlichen Risiken des Rauchens. Eine weitere janusköpfige Innovation war der Filter: Er suggerierte vordergründig zwar einen gewissen Schutz, doch zugleich räumten die Hersteller damit die Giftigkeit ihres Produkts ein. Überdies ist seit den 1990er Jahren zumindest in medizinischen Fachkreisen bekannt, dass mikroskopisch winzige Fragmente von Zelluloseacetatfiltern beim Rauchen mitinhaliert werden. „Diese Fasern sind potenziell krebserregend“, sagt Gerulf Hirt.
Dr. Sandra Schürmann, die Hauptautorin des zweiten Bandes, hat die transnationalen Beziehungen der deutschen Zigarette in den Blick genommen. Diese reichten vor dem Zweiten Weltkrieg in den Orient und auf den Balkan, aber auch nach Österreich, Frankreich, Russland und Polen. „Damals gehörte der Orient vollends zum deutschen Selbstverständnis“, berichtet Sandra Schürmann. Neu und erstaunlich sei gewesen, welch hohen Stellenwert in den 1920er-Jahren Zigaretten nach polnischer und russischer Art, sogenannte Papirossi, auf dem deutschen Markt hatten. Aber auch orientalische, türkische, griechische, französische oder amerikanische Anklänge hätten die deutschen Raucher bei „ihren“ Zigaretten sehr geschätzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe die Zigarette dann mehr und mehr transatlantische Bezüge aufgerufen – die Tabake und die Mythen des Orients wurden durch diejenigen der Vereinigten Staaten ersetzt. Diese selbstverständliche Integration vielfältiger Einflüsse aus anderen Kulturen mache die Geschichte der deutschen Zigarette gerade aus aktueller Sicht höchst aufschlussreich.
Über die akribische Auswertung einer Vielzahl von Quellen hinaus beschritten die Wissenschaftler auch neue Wege bei ihren Untersuchungsmethoden: So wurde, wie Prof. Gries erläutert, beispielsweise das Zeitzeugen-Interview um eine materielle Facette erweitert: „Wir untersuchten die Bedeutung von Objekten mit Hilfe von Objekten: Wir legten unseren Gesprächspartnern Zigarettenpackungen aus ihrem Raucherleben vor und verfolgten gespannt, was diese Konfrontationen bei ihnen auslösten.“ Bei aller kritischen Faszination für das „Kulturgut Zigarette“ sind die Wissenschaftler skeptisch, was die Zukunft des „Glimmstängels“ angeht. Sandra Schürmann kann sich vorstellen, dass die Zigarette als Massenprodukt ausgedient hat: „Vielleicht wird es die Zigarette weiter als Nischenprodukt geben, womöglich handgefertigt und aus Öko-Tabaken.“
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