17 TAGE EUROPA: Sonntag 2002-08-04 | MUSIQUE NON STOP
Der elfte Tag: Saarbrücken/Koblenz/Köln/Essen/Dortmund/Essen/BAB 3 Raststätte Hünxe
Losung am 4. August
„La musica ideas portara, y siempre continuara“
(Kraftwerk)
„In Saarbrücken fand ich den Ort meiner Reise, auf der am wenigsten los war.“ So werde ich später zitiert werden – ich bin mir da ganz sicher. Zum Abschluss der gestrigen Geschichte, hatte ich schon Douglas Adams zitiert und ich bleibe dabei, obwohl inzwischen die Sonne einen neuen Tag beleuchtet. Nur Trucker sagten sich hier an diesem Ort gestern Abend „Gute Nacht“, denn Fuchs und Hase waren da vor Langeweile längst gestorben. Folglich findet man im Innern der Raststätte alles, was dem Klischee nach das Truckerherz begehrt: Blinkende Lämpchen, Fensterdekorationartikel, kleine Fernseher, Schals mit Namen wie „Iveco“, „Werner“ oder „Türkei“, jede Menge Hefte mit frierenden Damen ohne Klamotten am Leib, die Chrom liebkosen. Es gibt CB-Funk-Accessoires, Kaffee pur, Kaffee als Dosengetränk, Kaffee in Schokoladenform, Kaffee als Tablette, Kaffee aus dem Automaten. Ich musste mich dabei ernsthaft fragen: sind Trucker denn tatsächlich so, wie es das Klischee vorgibt? Falls die Antwort darauf ein „Ja“ ist, dann erleben sie hier „Stille Tage im Klischee“, wie es Sankt Otten versprechen und wer deren Album kennt, weiß, dass es einen Titel zuvor um Fernfahrer geht: Treffer – versenkt!
Über Koblenz, Köln und Essen fahre ich weiter nach Dortmund in die bevölkerungsreichste Stadt des Ruhrgebiets – Ankunft am Mittag. Obwohl oder gerade weil am frühen Morgen (sprich: so gegen fünf oder sechs Uhr) im dortigen Westfalenpark das „Juicy Beats“-Elektronikmusik-Festival zu Ende gegangen war – man konnte es im den Uni-Radios der gesamten Region mitbekommen, und falls Sie es noch nicht wissen sollten: ich höre gerne Radio – waren in der gesamten Dortmunder Innenstadt, vor allem aber in Bahnhofsnähe, die Nachwirkungen der Elektromusik auf den menschlichen Körper nicht zu übersehen: Die Techno-Beats noch in den Köpfen, lagen überall Raver zwischen Beeten und Büschen, ihre Muskeln immer noch zuckend im Takt von 120 BPM. Ob dies wirklich die Antwort des Ruhrpotts auf die Berliner Loveparade sein soll … noch dazu, wo „Mr. Moog“ Klaus Schulze heute seinen 55 Geburtstag feiert und Elektronikmusik auch ganz anders klingen kann? Wirklich schade dass ich zu spät komme, denn ich wäre gerne gestern mit dabei gewesen. Aber wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben und zwar mit einem Rastplatz am Ende des Universums.
Was die schlafenden Raver betrifft: Ich würde mal sagen: 20 % schliefen friedlich im Freien in Blumenbeeten und Parkflächen, 40 % in der Chillout-Lounge des passenderweise technisch und zugleich kalt wirkenden Bahnhofsgebäudes, 30 % hüpften wie die Affen durch die Innenstadt und die restlichen 10 % hangelten von schlafwandlerisch Baum zu Baum und versuchten dabei, die unerwarteten Nebenwirkungen pharmazeutischer Präparate auszupendeln. Wenn man diese Zahlen addiert, weiß man, weshalb man als P´Raver immer bereit sein muss, 110 % zu geben. Das „größte deutsche Festival elektronischer Musik“ hatte tags zuvor 10.000 Besucher angelockt, vermeldete an diesem Mittag das Ruhrpott-Radio. Halb so viel wie erwartet. Der Regen am Nachmittag, so die Veranstalter, sei dafür verantwortlich. Klar: Irgendeinen Grund gibt es immer und das Wetter ist schließlich höhere Gewalt. Da braucht man sich dann offiziell keine Gedanken mehr über mögliche Veranstaltungsmängel zu machen. Nur noch um das in den Kassen fehlende Geld.
Weiter geht es am Nachmittag von Dortmund in die Niederlande. Auf dem Weg über die Autobahn höre ich weiter Radio und zwar bereits holländische Sender. Das ist Pflicht, denn die Niederlande haben ja schließlich eine echte Radiokultur. Da gab es zum Beispiel einst „Radio Veronica“, dem ersten echten Piratensender, der in den frühen Siebziger Jahren von einem Schiff außerhalb der 3-Meilenzone vor Hollands Küste all das sendete, was andere Radiosender nicht spielen wollten oder konnten. Bei „Veronica“ konnte man aber seinerzeit nicht nur Musik hören. Man bekam auch, jedenfalls wenn man gut zuhörte, alles erklärt, was man rund um die Musik wissen musste. Das war damals einmalig und gehört inzwischen zum Pflichtprogramm jedes guten Senders in Europa. Überhaupt, so stelle ich fest, erklären die Holländer ihren Zuhörern im Radio sehr viel. Wenn zum Beispiel in Israel eine Autobombe explodiert und Menschen sterben, dann ist diese traurige Nachricht den Radioleuten in Haarlem mindestens folgende Erklärung wert (Anmerking: De nachfolgende Word must von mir in Ermangeling van de Kenntnisse op de werkliche Worde nederländischer Sprak dramadisierend nachemfonde!): „In Israel is vor wenigliche Stonde enne groote Explosioon geweese. Et san moglicherweise ooch einige doode zu verzähle. Man weerd aber noch de weidere Endwickling abwoorde missen. Det Explosioon est scheinbar von ener Bombe geweese, die in an Automobeil hat deponeert gesinn.“
Diese Art der jahrzehntelangen positiven Berieselung hat meiner Ansicht dazu geführt, dass die Menschen der Niederlande eine gute Allgemeinbildung und jede Menge Hintergrundwissen besitzen und die Dinge etwas gelassener sehen als sonstwo. Von den Entwicklungen im Sport und im Musik- und TV-Showbuisiness einmal ganz abgesehen. Auch die Stufe der lockeren Radioberichterstattung, die man in den Niederlanden inzwischen erreicht hat, ist erstaunlich. In einer Reportage über Straßenmusikanten in Utrecht werden auch die Zuhörer befragt und die geben gerne Auskunft darüber, warum sie dem wackeren Musikanten nur 2 Cent gegeben haben. Und der Eindruck bleibt: Die Holländerinnen und Holländer sind immer gut drauf und haben keine Hemmungen über alles zu sprechen. Tabus gibt es kaum und dabei kommt für mich als Deutscher das, was man sagt und empfindet, irgendwie nett über den Äther rüber.
Noch bin ich nicht ganz in Holland angekommen, denn heute Abend bin ich etwas matter und müder als sonst. Ob mich vielleicht die Schlafkrankeit der Raver befallen hat? Jedenfalls ruft mein Körper nach einer „Auberge“ … Sie wissen schon. Die Raststätte Hünxe kommt da wie gerufen, rasch noch ein Foto vom Sonnenuntergang gemacht und dann lege ich mich erschöpft im Auto schlafen. Schnell falle ich in tiefen Schlaf und träume dabei von einem Radio, das immer und immer wieder Kraftwerks „Autobahn“ abspielt. So lange, bis es selbst zu einer Autobahn wird, mit Radiostationen als Raststätten und riesigen rot-weiß-getreiften Pylonen als Antennen. Ich stehe am Rande der Radio-Autobahn, eine lange Pfeife im Mund wie Jacques Tatischeff, und wundere mich über die Geschwindigkeit, mit der der Fortschritt an mir vorbei schreitet. Selbst wenn es nur ein Traum ist, so ist er doch wahr.
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