„Es wird definitiv schmerzvoll werden“: Ein parteiloser OB-Kandidat im Faktencheck (Teil 1/4)
Zur Neuwahl des Jenaer Oberbürgermeisters im April 2018 gibt es BewerberInnen der Jenaer Parteien (wir berichteten). JEZT-Leser „Klaus“ schrieb zu unserem Artikel vom 30.01.2018 einen Kommentar mit dem Hinweis: „Es gibt aber auch freie Kandidaten. Berichten sie mal darüber. Oder trauen sie sich das nicht.“
Keine Frage: ich erzähle gerne Geschichten, am liebsten gespickt mit Fakten und Quellen, und komme diesem Wunsch von „Klaus“ natürlich gerne nach, auch wenn es bislang nur einen freien Kandidaten gibt: Arne Petrich, Jahrgang 1967, self-made Immobilien-Unternehmer und (O-Ton Petrich / nachfolgend immer kursiv dargestellt) „Bürger unserer Stadt aus Leidenschaft“. Neben der Kandidatur des parteilosen Bloggers ist es aber, und da hat „Klaus“ vollkommen recht, nicht ausgeschlossen, dass auch die Piratenpartei eine Frau oder einem Mann ins Rennen schicken wird. Hierüber würde UNSER JENA / JEZT online gesondert berichten.
Vorbemerkung
Eine Studie der Ruhr-Uni-Bochum unter der Leitung von Prof. Dr. Jörg Bogumil gibt Auskunft darüber, was sich die Bürgerinnen und Bürger von „ihrem“ Oberbürgermeister wünschen. Es sind dies vor allem sieben Eigenschaften: 1.) Führungsqualitäten, 2.) Glaubwürdigkeit, 3.) persönliches Auftreten, 4.) Sachkenntnis, 5.) Transparenz, 6.) Umgang mit den Bürgern sowie 7.) die Bereitschaft, in wichtigen Fragen Konsens mit den im Stadtrat vertretenen Parteien zu erzielen. Machen wir also gemeinsam in den nächsten vier Tagen einen Faktencheck, inwieweit Petrich diese Erwartungen erfüllen kann, was er in seinem Wahlprogramm stehen hat und ob hierdurch Kosten auf die Stadt Jena bzw. die Bürgerinnen und Bürger zukommen. – Los geht es mit…
Arne Petrich, der Oberbürgermeister-Kandidat
Der OB-Kandidat sagt von sich, dass er 1989 zu Zeiten der friedlichen Revolution in der DDR auf die Straße gegangen ist, um unsere Stadt besser werden zu lassen. Ob er dies als einfacher Bürger tat oder in welchen Bürgerbewegungen er am runden Tisch aktiv war, ist nicht bekannt. Ebenso findet man in seiner öffentlichen Biografie keinerlei Angaben zu den eigenen politsch-gesellschaftlichen Aktivitäten zwischen der Volkskammerwahl 1990 und dem Jahre 2008, als er den Internetblog Jenapolis gründete (Jena = unsere Stadt / polis = die Bürgergemeinde) . Petrich bemängelt auf Jenapolis seither immer wieder den Zustand, in dem sich die Jenaer Gesellschaft heute befindet, sagt, „dafür“ sei er 1989 nicht auf die Straße gegangen, zieht Vergleiche mit dem Unrechtsstaat DDR und meint: „Das, was gerade in Jena am entstehen ist, hatten wir im Osten schon einmal. Nämlich vor 1989! Und wir sind dort wieder schneller als uns lieb sein könnte.“
Aus dieser Motivation heraus gründete Arne Petrich in den letzten zehn Jahren neben Jenapolis gleich eine ganze Reihe von Informationsblogs, darunter Eastsidenews, Politopolis, Unser Jena und Mr. Jenapolis, die sämtlich „für eine einfache, offene und transparente Kommunikation“ standen oder stehen, „die wichtigsten Nachrichten zusammentragen, gebündelt und einfach lesbar zur Verfügung stellen, alte Pfade verlassen, mehr Demokratie wagen, mehr Transparenz in Entscheidungen ermöglichen.“ Sein großes Ziel, die Jenaer Ortsteile auf Jenapolis integrieren zu wollen, hat er jedoch verfehlt. Ebenso sind inzwischen Politopolis, Jenaleaks, Eastsidenews und seine Aktion „Sprachhilfen“ für Flüchtlinge beendet oder im Netz nicht mehr erreichbar. Überhaupt tut sich Petrich mit vielen Dingen, die er anpackt, nicht einfach. Sei’s drum: jetzt geht es für ihn um das Projekt „Oberbürgermeister der Stadt Jena“.
Das Jenaer Stadtleben des 21. Jahrhunderts gleiche einer Art „DDR 2.0“, bei der der Bürger nichts mehr zu bestimmen habe, berichtet der freie OB-Kandidat. Unsere Stadt sei zur Machtzentrale der SPD geworden, die über fünfundzwanzig Jahre hinweg ihre Machtposition ausbauen und die Schlüsselpositionen der Eigenbetriebe der Stadt parteipolitisch besetzen konnte. Petrich: „Hat sich eine Entscheidungselite in Jena etabliert? Diese Frage ist mit einem klaren JA zu beantworten. Was können wir dagegen tun? Demokratisch derzeit nichts.“ Sein Gegenmodell ist die Bürgerkommune, so der Immobilien-Unternehmer, fügte aber bisher immer an, dass niemand wisse, ob sie verwirklicht werden könne – auch weil der Freistaat den Bürgern keinerlei Finanzmittel zur Verfügung stelle, um in Städten und Gemeinden selbständig etwas umzusetzen: „Dies zu ändern, wäre ein historischer Schritt, der sich auch auf andere Städte auswirken könnte.“
In seinem Wahlaufruf in eigener Sache berichtet Mr. Jenapolis nun erneut über Jenas unkooperative und untransparente Stadtverwaltung, die inklusive der städtischen Eigenbetriebe und gefördert vom aktuellen Oberbürgermeister Gentrifizierung betreibe, welche in unserer Stadt„apokalyptische Ausmaße“ angenommen hätte. Er selbst habe angesichts der Gentrifizierung „noch Glück gehabt“, berichtet der OB-Kandidat dem Nachrichtenmagazin SPIEGEL: „100 Quadratmeter im zweiten Stock, das reicht für die Familie mit zwei Kindern und zwei Zwergkaninchen.“ In einem TV-Beitrag des ZDF Länderspiegel berichtet der Immobilien-Unternehmer unter der Berufsbezeichnung ’selbständiger Internetblogger‘ sogar darüber, dass in unserer Stadt Familien regelmäßig nahezu die Hälfte des Monatseinkommens allein für Miete und Nebenkosten aufbringen müssten. Das alles war bereits vor fünf Jahren, doch genauso sieht Mr. Jenapolis auch heute die Welt.
Deswegen müsse jetzt gehandelt werden, fordert der Kandidat die Jenaer Bürgerinnen und Bürger auf. Unverzüglich müsse sich die Lichtstadt in eine Bürgerstadt Jena wandeln und zwar mit ihm, Arne Petrich, als parteilosem Stadtoberhaupt, denn „In meinen Augen gehört Parteienpolitik der Vergangenheit an, aber einer kommunalen Bürgerpolitik die Zukunft.“ – In seiner Vision einer Bürgerkommune sollen (ähnlich wie beim Bürgerhaushalt) alle Bürger Jenas jeweils darüber entscheiden, was wo und wann in unserer Stadt gemacht wird oder wohin die Richtung bei bestimmten Vorhaben gehen soll. Erstaunlich ehrlich sagt Mr. Jenapolis seinen potentiellen Wählerinnen und Wählern: „Es wird definitiv schmerzvoll werden.“
Unter Berücksichtigung der o.g. Bürgerwunschparameter „Glaubwürdigkeit“ und „Transparenz“, wäre es hier für den Kandidaten sinnvoll gewesen, etwas genauer zu erklären: wie, wann, wo, wie heftig? Arne Petrich gibt jedoch auf diese Fragen bewusst keine konkreten Antworten, damit diese „nicht zu Versprechen umgedeutet“ werden, wie er es ausdrückt. Grundidee für seine Kandidatur sei: „Ich möchte die verstummte Stimme ALLER Bürger Jena´s (Anm.: sīc erat scriptum) wieder erklingen lassen, damit wir als Gemeinschaft wieder Wirkung auf alle Belange unseres Daseins ausüben können, damit der Bürger unserer Stadt zeitgleich Verwalter, Treusorger und Erhalter seines Lebensraumes sein darf.“
Trotzdem könnte man es als legitim empfinden, wenn die Wählerinnen und Wähler zumindest danach fragen, was sein Bürgerstadt-Umbaus kosten würde, denn OB-Bewerber Arne Petrich selbst sagt in einer Analyse der Probleme unserer Stadt: „Das Geld in Jena ist alle. Leider wird das nicht öffentlich kommuniziert. Mahnungen von Steuerprüfern verpuffen. Jena lebt nun in Prunk und Protz nur noch vom Eingemachten.“ Und nur einen Post weiter stellt er laut die Frage: „Ist das jetzt schon so, dass die Verwaltung für den Wahlkampf genutzt werden darf?“ Doch auf die Fragen, welche Mahnungen von welchen Steuerprüfern er angesprochen hat oder wie die Verwaltung für den OB-Wahlkampf missbraucht wird, hat er nichts zu berichten. Dies obwohl es hier nicht um Versprechen geht sondern darum, Fakten zu liefern, um Behauptungen zu im OB-Wahlkampf belastbaren Themen zu machen.
Das Wahlprogramm (1)
In seinem Wahlaufruf „Jena und Region zusammen denken und endlich handeln!“ verkündet Arne Petrich jetzt, die Zeit sei gekommen für die komplette Umwandlung unserer Stadt. Damit man sich als Wählerin oder Wähler hierüber ausführlich informieren kann, hat Mr. Jenapolis ein mehr als zwanzig Seiten starkes Wahlpogramm entwickelt und dazu auch noch eine zweiseitige Kurzversion in einfacher Sprache entworfen, für alle Menschen, denen das Wahlprogramm zu lang oder zu kompliziert ist. Eine delikate Angelegenheit, denn wer sich die Zeit nimmt, beide Petrich-Wahlprogramme zu lesen und sie vergleicht, dem fällt auf, dass sie durchaus NICHT identisch sind. So ist der Punkt „Mietpreismoratorium für Jenawohnen (= Festschreibung der Nettokaltmiete) ein wesentliches Thema in Petrichs Kurzprogramm, fehlt jedoch in seinem großen Programm völlig. Dafür werden in der Kurzfassung die Worte „Bürgerstadt“ oder „Bürgerkommune“ überhaupt nicht verwendet, die im 20-Seiten-Wahlprogram von Arne Petrich ein halbes Dutzend Mal vorkommen und auch näher erklärt werden. Die Idee eines kostenfreien Nahverkehrs sucht man in seinem Hauptprogramm dann wieder vergeblich, während sie in der Kurzfassung eine wesentliche Rolle einnimmt. Die Verwirrung komplett macht die Tatsache, dass sich des Kandidaten Wahlprogramme sozusagen „im Fluss“ befinden („panta rhei“ nannte dies Heraklit einst): Petrich verändert sie – ohne seine potentiellen Wähler hierauf hinzuweisen – immer wieder mal oder ergänzt sie, so etwa um städtebauliche Ziele zum sog. „Bachstraßenareal“. – Aus meiner Sicht ist dies eine Irreführung potentieller Wähler.
Doch zurück zum Kernthema „Bürgerkommune / Bürgerstadt“: Mr. Jenapolis will hierbei „mit dem verantwortungsbewussten Bürger als Geldgeber, Planer und als Nutznießer“ die Stadt Jena „als sich selbst vertretendes Gemeinwesen“ durch des Bürgers „angemessenen Anteil“ an Kreativität, Phantasie, Leistung und Energie „zur gesellschaftlichen Wohlfahrt“ führen. An anderer Stelle im Programm schreibt er: „Künftig steht die Entscheidungshoheit für finanziell intensive Vorhaben der Stadtentwicklung dem Personenkreis zu, der durch manuelle Arbeit, durch die Schaffung intelligenter Lösungen, durch Kopf- oder Handarbeit genau die Millionenbeträge erwirtschaftet, die er auch zu seinem eigenen partizipierenden Nutzen möglichst sinnvoll eingesetzt sehen möchte.“ Und „hauptrangiger Maßstab“ sei zukünftig ausschließlich „der Bürger und die nachhaltige Zukunftsfähigkeit der Projekte“ – es gelte „neue stadtentwicklerische Wege zu gehen, mit Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Verwaltung, den Kreativen und Kulturschaffenden und befähigten, interessierten Bürgern als dynamische Arbeits- und Entwicklungsgemeinschaft“.
Wer eine Wohnung neu einrichten will, den Garten umgestaltet oder einen Urlaub plant, kennt das: Ideen, Worte und Ziele werfen naturgemäß Fragen nach der Umsetzung und den Kosten auf. Antworten hierauf sucht man im Wahlprogramm des OB-Kandidaten Arne Petrich vergeblich, findet sie dafür in wissenschaftlichen Untersuchungen, Bachelorarbeiten, Büchern und Statements zum Thema. Im Internet gibt es unzählige Quellen – die Internetsuchmaschine google listet zum Thema Bürgerstadt / Bürgerkommune rund 180.000 Suchergebnisse, bing 58.000, beispielsweise HIER, DA, DORT, AN DIESER und AN JENER STELLE. Steigt man ein, liest vielleicht sogar ein, zwei oder drei Fachbücher zum Thema, schreibt der einen Wissenschaftlerin oder dem anderen Professor mal eine E-Mail, erfährt man schnell das Wesentliche und erkennt, dass maßgebliche Ideen der Bürgerkommune bereits von fast allen in der Stadt Jena vertretenen Parteien als lokalpolitisches Leitbild gewählt oder sogar umgesetzt wurden, darunter die Bürgerbeteiligung, der Bürgerhaushalt, die Bürgerstiftung, das Jugendparlament oder verschiedenste Beiräte (unsere Stadt hat davon ganze 15), um nur einige zu benennen. Prof. Dr. Wilfried Osthorst (Hochschule Bremen) und Rolf Prigge (Institut Arbeit und Wirtschaft, Bremem) widmen diesem Thema, von dem Arne Petrich nichts berichtet, in ihrem Buch „Die Großstadt als Bürgerkommune“ ein ganzes Kapitel.
Eines sucht man in Deutschland aber vergebens: eine reine Bürgerstadt mit einem Oberbürgermeister an der Spitze kommt in der kommunalpolitischen Realität der Bundesrepublik nicht vor. Woran könnte das liegen?
MEHR DAZU IM NÄCHSTEN TEIL DES BERICHTS, DEN SIE MORGEN LESEN KÖNNEN.
Für heute sage ich erst einmal: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ihr Rainer Sauer
« „Insulaner sind tief entäuscht“: Jetzt wurde ihnen komplett gekündigt, ohne Ersatzobjekt in Aussicht „Ein Ohr für viele Fragen“: Neue Beratungsstelle der Krebsgesellschaft in der onkologischen Tagesklinik am UKJ »