„Es wird definitiv schmerzvoll werden“: Ein parteiloser OB-Kandidat im Faktencheck (Teil 2/4)

09.02.18 • AUS DER REGION, JEZT AKTUELL, NEWSCONTAINER, POLITIK & URBANES LEBEN, START, UNSER JENA, UNSER JENA & DIE REGION3 Kommentare zu „Es wird definitiv schmerzvoll werden“: Ein parteiloser OB-Kandidat im Faktencheck (Teil 2/4)

JEZT-Leser „Klaus“ bat mich darum, den unabhängigen Jenaer OB-Kandidaten Arne Petrich vorzustellen und einem Faktencheck zu unterziehen; gestern habe ich damit angefangen. – LESEN SIE HIER TEIL 1 DES ARTIKELS!

Self-made Immobilien-Unternehmer Arne Petrich bewirbt sich um das Amt des Jenaer Oberbürgermeisters und wie das allgemein bei Bewerbungen ist, reicht es nicht aus, zu sagen, was man/frau will sondern es müssen auch Arbeitszeugnisse und Referenzen auf den Tisch gelegt werden.

Der Kandidat erklärte den Jenaerinnen und Jenaern, dass er seit beinahe zehn Jahren im Dauerclinch mit dem amtierenden Jenaer Oberbürgermeister Dr. Albrecht Schröter liegt, dem er die unterschiedlichsten Dinge vorwirft. Mal ist es politische Unfähigkeit und Bürgerunfreundlichkeit, dann wieder Intransparenz im Handeln, Geldverschwendung oder Alleinherrschaft am Volke vorbei. Damit dies ein Ende hat, entwarf der freie OB-Kandidat gleich zwei – leicht unterschiedliche – Wahlprogramme: ein ausführliches, mehr als zwanzig Seiten starkes, und dazu auch noch eine zweiseitige Kurzversion in einfacher Sprache. Schauen wir heute noch einmal auf das Programm und morgen dann auf Petrichs Referenzen für den gewünschten Job:

Das Wahlprogramm (2)

Arne Petrich sieht seine Ziele als Jenas Oberbürgermeister so (O-Ton Petrich / immer kursiv dargestellt): „Wir müssen für die großen Fragen in Jena endlich Antworten finden. Eine Stadt, die wächst, darf dies nicht auf Kosten der Bürger tun. Sie muss es im Grunde und ihrem Wesen nach für den Bürger tun. (…) In meinen Augen gehört Parteienpolitik der Vergangenheit an, aber einer kommunalen Bürgerpolitik die Zukunft. (…) Ich möchte vor allem eins sein: Ihr Partner für Jena für eine bezahlbare und moderne Stadt! Nur damit kommen wir von der Konzern-Stadt zur Bürgerkommune.“

Politik- und Verwaltungswissenschaftler Tom Eich führt uns in seiner 56-seitigen Bachelorarbeit „Partizipation in der kommunalen Haushaltspolitik am Beispiel der Städte Freiburg und Köln“ aus dem Jahre 2011* schon in die richtige Richtung. „Trotz einer intensiven Öffentlichkeitsarbeit“, stellt er bei der aktiven Mitwirkung von Bürgern fest, „ist es in nicht gelungen, mehr als 1 % bis 2 % der Bevölkerung für eine Beteiligung zu gewinnen.“ Eich berichtet weiter: Selbst wenn es in Zukunft gelingen sollte, dass durch eine weitere Verbesserung der Verfahren doppelt soviel oder mehr Bürger an den Verfahren teilnehmen sollten, würden die zentralen Probleme einer Bürgerverwaltung so nicht zu lösen sein. In Eichs Bachelorarbeit ging es noch nicht einmal um die Komplett-Bürgerkommune à la Petrich sondern „nur“ um Partizipation in Bürgerhaushaltsverfahren.

In der 110.000-Einwohnerstadt Jena ist das Interesse am Bürgerhaushalt zwar deutlich größer als in Tom Eichs Beispielen, jedoch machten in den letzten fünf Jahren beim Bürgerhaushalt (siehe hier die Ergebnisse 2013, 2014, 2015, 2016 und 2017 / = jährlich 15.000 Haushalte waren repräsentativ ausgewählt) direkt oder bei der zusätzlichen Online-Befragung nie mehr als insgesamt 3.750 Haushalte mit, was einer Quote von etwa 25 % der genannten 15.000 Haushalte entspricht; im schlechtesten Fall waren es 2.400. Selbst wenn man diese Quote auf rund 110.000 Einwohner hochrechnen sollte, würden sich in Jena immer  82.500 Einwohner einer Mitarbeit am Konzept der Bürgerstadt-Entscheidungen verweigern – dies bei einer einmal pro Jahr stattfindenden Aktion. Ganz zu schweigen von der verwaltungs-logistischen Herausforderung, einer solchen direkten Befragungen nicht von Haushalten sondern von Einwohnern und gleich mehrfach im Jahr, vielleicht sogar einmal pro Monat. Dies stets urdemokratisch durchzuführen ist inklusive der Auswertung kaum zu bewältigen. Genau deshalb gibt es in unserer Gesellschaft das System der repräsentativen Demokratie durch Volksvertreter – ein System, dass Arne Petrich für so falsch hält, dass er es abschaffen möchte, denn „In meinen Augen gehört Parteienpolitik der Vergangenheit an…“ Doch die Schwierigkeit, alle Bürgerinnen und Bürger zur stetigen Mitentscheidung zu motivieren untersetzt die wissenschaftliche Meinung,

Bucheinbandcover Abbildung © edition Sigma Berlin und Petrarca Verlag

In dem Buch „Das Reformmodell Bürgerkommune“ von Prof. Jörg Bogumil (Ruhr-Universität Bochum), Prof. Lars Holtkamp (Institut für Politikwissenschaft, Hagen) und Dr. Gudrun Schwarz (Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald) wird belegt, dass Petrichs Prinzip der direktdemokratischen Bürgerkommune in Großstädten wohl nicht funktionieren wird und die Autoren beschreiben weitere gravierende Probleme, die zu erwarten sind, wenn Bürgerinnen und Bürger allein als kommunale Entscheidungshoheit agieren sollten:

– Bürgerkommunen funktionieren – wenn überhaupt – nur in Gemeinden und kleineren Städten. In größeren Städten wie Jena scheitert das Bürgerbeschlussmanagement daran, Bürger für die tagtägliche Mitarbeit am Gestalten zu motivieren und über alles abzustimmen zu lassen. So entscheidet am Ende dann doch wieder nur eine Minderheit der Bürger über die großen Entwicklungskonzepte der Stadt, während andere zuhause – möglicherweise von der Last ihres Jobs oder der Familie ermüdet – zur gleichen Zeit lieber regenerieren wollen. Die Bürgerstadt (und im vorliegenden Fall ein Oberbürgermeister Arne Petrich) kann somit nicht alle sozialen Gruppen in gleichem Maße erreichen und diese durchweg zu erwartende Schieflage lässt das Projekt scheitern.

– Die Interessen der „Auftraggeber“ (Bürgerinnen und Bürger) und die Aufgaben der Stadt / Großstadt (Verwaltung ebenso wie Industrie und Hochschulen) klaffen permanent weit auseinander, sind schwierig in Einklang zu bringen. Andererseits: Wenn mehrheitliche Entscheidungen knapp ausfallen, werden sie von der unterlegenen Minderheit der Bürger als nicht legitim empfunden, weshalb man die Bürgerkommune nicht wirklich als „Gegenmittel“ zum bisherigen Verfahren repräsentativ-demokratischen Legitimation auf kommunaler Ebene ansehen darf, denn das auch bei der Bürgerkommune festzustellende Empfinden von „nicht legitimen“ Entscheidungen gibt es heute bereits im laufenden Politikbetrieb von Nicht-Bürgerstädten.

Die Kosten des Umstiegs unserer Stadt, hin zu einer Bürgerstadt / Bürgerkommune

Bleibt beim Faktencheck der Wünsche von Arne Petrich auch die Frage zu klären: Was kostet uns, was kostet jeden Bürger unserer Stadt, der konsequente Umbau Jenas zur Bürgerstadt? Diese Fragestellung ist die schwierigste von allen, denn die finanzielle Komponente lässt sich – auch für den Kandidaten – kaum berechnen. Klar ist nur: zum Nulltarif gibt es das Ganze nicht. Doch zumindest vier Punkte des Petrich-Wahlprogramms „Jena und Region zusammen denken und endlich handeln!“ erlauben ansatzweise betriebs- bzw. gesamtwirtschaftliche Sichtweisen. Der Kandidat kann, wenn ihm die nachfolgenden Berechnungen nicht gefallen oder er sie für unrealistisch hält bzw. anzweifelt, selbstverständlich gerne die eigenen Zahlen präsentieren.

1.) Die Rückabwicklung der Stadionbaus mit der Anfang des Jahres gestarteten europaweiten Suche nach einem Investor und die Umstellung des Verfahrens hin zur einst gewünschten Stadionsanierung: Hier muss man von einem mittleren zweistelligen Millionenbetrag ausgehen, denn das Projekt ist weit fortgeschritten, durch einen Bebauungsplan gestützt, im Fördermittelprogramm des Freistaats verwurzelt, Verträge mit Vereinen und anderen Dritten sind abgeschlossen. Allein der Abbruch der Vergabe würde Schadensersatzforderungen mit sich bringen und die Neukonzeption des Stadionprojektes inkl. B-Plan und Infrastruktur Zusatzkosten, ebenfalls in Millionenhöhe.

Eine aktuelle Online-Petition, die der OB-Kandidat als erster unterzeichnet hat, besagt: „Deshalb fordern wir (…) eine Abkehr vom Vorhaben eines Stadion- Neubaus und eine sachgerechte, intelligente Sanierung im Bestand. Das Einsparungspotential kann damit weiteren Vorhaben im Bereich sportlicher Aktivitäten zur Verfügung stehen.“ Wie bereits in Teil 1 des Artikels an anderen Beispielen aufgezeigt, fehlt der Beleg für ein – wie auch immer geartetes – „Einsparpotential“. Hinzu kommt, dass auch ein Oberbürgermeister Arne Petrich § 29 der Thüringer Kommunalordnung beachten muss, wonach ein OB Beschlüsse des Stadtrats zu vollziehen hat, sofern diese nicht rechtswidrig sind. Mr. Jenapolis dagegen schreibt in seinem Wahlprogramm: „Der derzeit favorisierte und durch Ratsbeschlüsse wohl alleinstehende Plan eines Neubaus sollte (…) als finanziell zu risikobehaftet verworfen werden.“ – Ahnt der Kandidat, dass dieses Ziel wohl eher unrealistich ist, dann muss er dies den Wählerinnen und Wählern auch klar sagen. Hat er keine Ahnung und hält an dem Ziel fest, entstehen die beschriebenen Kosten von geschätzt 50 Millionen Euro.

Bucheinbandcover Abbildung © Kellner Verlag und Petrarca Verlag

2.) Die Rückabwicklung der Eichplatz-Bebauung mit einer Abkehr vom endgültigen Verkauf des Areales und einer Bevorzugung der Erbpacht-Variante: Im O-Ton Petrich liest sich das so: „Im Verfahren um die Eichplatz–Bebauung schlagen wir (Anm.: sīc erat scriptum) eine Abkehr vom endgültigen Verkauf des Areales (…) und eine Prüfung der Erbpacht-Variante vor. (…) Das Bebauungskonzept sollte auf die Gestaltung eines Zentrums für Kreativwirtschaft und vorrangig sozialverträglicher Wohnbebauung im Zentrum unserer Stadt orientiert werden.“ Abgesehen von der Machbarkeit, bei der das Gleiche wie unter 1. beschrieben gilt, ist auch hier die europaweite Suche nach Investoren bereits gestartet, wenn im April ein neuer Jenaer OB gewählt wird – mit allen Folgekosten einer Rückabwicklung. Der Umstieg hin zu einem Zentrum für Kreativwirtschaft plus sozialverträglicher Wohnbebauung ergibt in der betriebswirtschaftlichen Kalkulation (Anm.: Die ein befreundeter Ökonom für mich durchgeführt hat) Mehrkosten gegenüber dem vom Stadtrat beschlossenen Konzept von zwischen 12 und 16 Millionen Euro. Was Petrich aber völlig verschweigt: Es gab zum Konzept mehrere aufwendige Eichplatz-Werkstattverfahren unter intensiver Bürgerbeteiligung mit dem Ergebnis, dass hierbei zehn Grundsätze zur Entwicklung des Eichplatzareals formuliert und vom Stadtrat schließlich beschlossen wurden. Grundsatz 04 „Das Eichplatzareal soll sich durch eine Mischung vielfältiger Nutzungen auszeichnen. Dazu gehören ein kleinteiliger Branchenmix besonders in den Erdgeschossen und ein ausgewogenes Verhältnis von Wohnungen verschiedener Größen und Preiskategorien.“ – mithin ein essentieller Willen der Jenenser Bürgerschaft – lässt Petrichs Konzept völlig außer Acht. Die entsprechende Online-Petition hat der freie OB-Kandidat erneut als erster unterzeichnet.

3.) Wohnbauland & Wohnen: Die Versteigerung kommunaler Grundstücke durch den städtischen Eigenbetrieb Kommunale Immobilien Jena soll abgeschafft und die Vergabemodi sozialverträglich für Bauherren / künftige Wohnungsnehmer gestaltet werden. So hat es sich der OB-Kandidat als Ziel gesetzt und kann dieses Ziel als Immobilien-Unternehmer wohl nur begrüßen. Bei Jenawohnen soll es seinem Wunsch nach zudem ein Mietpreis-Moratorium für den Wohnungsbestand mit einer Festschreibung der Nettokaltmieten geben. Die Folgekosten dürften sich in niedriger zweistelliger Millionen-Euro-Höhe bewegen, wobei das Jenawohnen-Moratorium KEINE Entscheidung des OBs oder des Jenaer Stadtrats wäre, sondern eine der Stadtwerke-Holding.

4.) Umbau des Jenaer Nahverkehrs in einen kostenfreien Bürger-Nahverkehr: Auch dies wird wohl von der Stadtwerke-Holding zu entscheiden sein, bei der zwar viele Stadträte im Aufsichtsrat sitzen, aber eben gewählte Parteipolitiker und keine Petrich-Anhänger. Die Umsetzung des Kandidaten-Willens dürfte demnach auch in diesem Gremium äußerst interessant werden. Doch wie so oft: „Gratis gibt es nicht gratis!“ Kommt die von ihm gewünschte Entscheidung zum Bürger-Nahverkehr jedoch, sind entgangene Umsatzerlöse von rund 18 Mio. Euro jährlich die Folge.

Bereits diese vier Punkte des umfangreichen Bürgerstadtumbauprogramms von Mr. Jenapolis dürften den städtischen Haushalt (50 + 14 + 11 + 18 =) an die 100 Millionen Euro kosten. Stimmt es jedoch, dass Jena bereits heute an seiner Planwirtschaft erstickt und das Geld „alle ist“, wie er selbst berichtet, dann sind diese Ziele für einen Oberbürgermeisters Arne Petrich nicht realisierbar und dies sollte er den Wählerinnen und Wählern auch so sagen. Denn die wünschen sich einer Studie der Ruhr-Uni-Bochum nach von ihrem Oberbürgermeister vor allem sieben Eigenschaften, darunter Glaubwürdigkeit, Sachkenntnis und Transparenz.

LESEN SIE MORGEN TEIL 3 DES ARTIKELS.

Für heute sage ich nochmals: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Ihr Rainer Sauer


* = die damit mehr als doppelt so umfangreich ist, wie das Petrich-Wahlprogramm, aber das hat ja nicht wirklich etwas zu bedeuten. Dass Tom Eich Bachelor der Politik- und Verwaltungswissenschaft ist sowie FDP-Kandidat für das EU-Parlament war, Petrich freiberuflicher Kommunikationsberater für Unternehmen war und heute Immobilien-Unternehmer ist, vielleicht schon.





3 Kommentare

  1. Jens Thino Friedrich sagt:

    Interessanter würde sich dieses umfangreiche Niedermach- Pamphlet darstellen, würde man zur Vita des Verfassers hinzufügen, daß er neben seinen zahlreichen „Aktivitäten“ eben auch zu den leitenden Mitarbeitern des Kommunalservice – Abteilung Gebühren – gehört und damit darstellt, daß er offenbar zur Entourage des Herrn Noch- OB- Schröter gehört. Verständlich also, daß die vorliegende Einlassung eher ein Applaudieren zum Status Quo darstellen sollte. Man möchte ja den wirklich einträglichen Haupt- Job unter dem hauptamtlichen „König von Jena“ behalten. Was die „wissenschaftlichen Abhandlungen“ betrifft, die in überwältigendem Ausmaß hier als Gegenbeweise angeführt werden, bleibt zu konstantieren: „Für jede Idiotie findet sich ein Wissenschaftler, der sie als Plausibel erklären kann.“ Selbst für eine flache Erde oder unter uns lebende Außerirdische!

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