Umstellen und modern bleiben: Millionen-Förderung für neue FSU-Forschungsgruppe zum Thema „Bioökonomie als gesellschaftlicher Wandel“
(Sebastian Hollstein) – Die Tage fossiler Rohstoffe als Energielieferanten und Basismaterialien der Industrie sind gezählt. Die Endlichkeit von Kohle, Erdöl und -gas sowie das Gebot zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen führen dazu, dass Deutschland und die meisten anderen Industrienationen in Zukunft auf erneuerbare Rohstoffe setzen. Welche gesellschaftlichen Veränderungen mit dieser Wende hin zu einer Bioökonomie einhergehen, das untersuchen ab dem 1. März Soziologinnen und Soziologen der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Rahmen einer neuen Nachwuchsgruppe. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert die sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Institut für Soziologie im Rahmen des Programms „Bioökonomie als gesellschaftlicher Wandel“ in den kommenden fünf Jahren mit rund drei Millionen Euro.
„Historisch gesehen ist die Vorstellung immerwährenden Wirtschaftswachstums eng verbunden mit der Nutzung von Kohle und Erdöl, da man über lange Zeit die Endlichkeit dieser Ressourcen ausblenden, die Fördermengen immer weiter steigern und den Transport kontinuierlich verbessern konnte. Gesellschaften, deren Wirtschaft auf fossilen Brennstoffen aufbaut, sind also Wachstumsgesellschaften„, erklärt der Nachwuchsgruppenleiter Dr. Dennis Eversberg von der Universität Jena. „Wir gehen in unserer Arbeit davon aus, dass sich diese lineare Wachstumsvorstellung in einer bioökonomisch geprägten Gesellschaft verändern muss. Denn biologische Grundstoffe sind naturgegebenen Reproduktionszyklen unterworfen – sie wachsen nicht beliebig schnell und dementsprechend hat ihre Verfügbarkeit Grenzen.“ Sicherlich lasse sich durch biotechnologische Entwicklungen der Output an Biomasse und biologisch nutzbaren Stoffen noch erhöhen, aber auch hier gebe es klare Limitierungen und mitunter ethische Probleme.
Die Gesellschaft müsste sich in diesem Umfeld also von ihrer mentalen Orientierung auf eine permanente Steigerung verabschieden und stattdessen alternative Vorstellungswelten entwickeln, denen andere, möglicherweise eher zyklische Zeitlichkeiten zugrunde lägen. „Das ist eine große Herausforderung für die moderne Gesellschaft, die sich von Anfang an über die Zeitlichkeit des Fortschritts, des Mehr und Besser definiert hat„, sagt Eversberg und stellt darüber hinaus die Frage, auf die die Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in den kommenden fünf Jahren Antworten finden wollen: „Wie lassen sich Errungenschaften der Moderne – etwa persönliche Freiheiten, Demokratie, Menschenrechte und Selbstbestimmung – auf anderer Ressourcenbasis und ohne die materielle Grundlage der stetigen Steigerung sichern? Kurz gesagt: Wie können wir uns umstellen und gleichzeitig modern bleiben?„.
Um dem nachzugehen, führen die Jenaer Soziologinnen und Soziologen unter anderem Fallstudien in verschiedenen Regionen Europas durch, in denen bereits ein Wandel hin zur Bioökonomie stattfindet. „Wir konzentrieren uns beispielsweise auf sogenannte Bioenergiedörfer in Deutschland, schauen uns die Holzindustrie in Finnland an, die ein zentraler Bestandteil der Bioökonomiestrategie des Landes ist, und untersuchen gesellschaftliche Entwicklungen in Estland, wo seit dem Zusammenbruch der industrialisierten sowjetischen Landwirtschaft der private Obst- und Gemüseanbau eine elementare Funktion in der Versorgung des Landes eingenommen hat„, informiert der Gruppenleiter. Dabei stellt sich die Frage, ob die Erfahrung dieser wirtschaftlichen Veränderungen auch die Weltsicht der Menschen und damit ihr Zusammenleben beeinflusst hat. Im dritten Jahr soll dann in einer eigenen repräsentativen Bevölkerungsbefragung erforscht werden, wie weit unterschiedliche Einstellungen zum bioökonomischen Wandel in der deutschen Bevölkerung verbreitet sind.
Um ihre Arbeit zugänglich zu machen, wollen sich die jungen Jenaer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer wieder an die Öffentlichkeit wenden, sich in aktuelle Diskussionen einmischen und regelmäßig über ihre Forschung berichten. „Wir planen Workshops, bei denen wir den Menschen an den Orten der Studien unsere Arbeit vorstellen und dadurch möglicherweise die Reflexion der eigenen Situation unterstützen„, sagt Eversberg. „Zudem wollen wir hierzulande mit Vertretern aus Wirtschaft, Politik und Nichtregierungsorganisationen ins Gespräch kommen und unsere Ergebnisse zur Diskussion stellen.“ So könnten diese beispielsweise in politische Prozesse – etwa bei der Gestaltung regionalen Strukturwandels – einfließen.
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