„Wahrheit ist, was der Sache dient“: Anja Siegesmund und ihr „Klimanotstand“-Interview mit der dpa

01.10.19 • JEZT AKTUELL, NEWSCONTAINER, POLITIK & URBANES LEBEN, START, UNSER JENAKommentare deaktiviert für „Wahrheit ist, was der Sache dient“: Anja Siegesmund und ihr „Klimanotstand“-Interview mit der dpa

Ministerin Anja Siegesmund bekommt beim KSJ die Funktionsweise des Verkahrsrechners erklärt. – Foto © Stadt Jena

Es mag sein, dass die Presse Interviews nicht immer so wiedergibt, wie sie im Wortlaut abgelaufen sind. Journalisten verkürzen oder verdichten, lassen Antworten auf Zwischenfragen weg und so weiter. Und machmal bleibt dem Interviewten nichts anderes übrig, als sich gegen eine sinnverdrehende Darstellung des Interviews zu wehren.


Es ist Wahlkampfzeit in Thüringen. Und es begab sich, dass die Bündnis-Grüne Fraktion im Jenaer Stadtrat im Juni (deren exponierteste Vertreterin Frau Anja Siegesmund ist, Spitzenkandidatin der Thüringer Grünen im beginnenden Landtagswahlkampf und aktuelle Umweltministerin im Ramelow-Kabinett) eine Vorlage einbrachte, die da hieß „Klimanotstand: Der Klimakrise mit höchster Priorität begegnen“.

Den Grünen schloss sich noch vor der Juli-Sitzung des Stadtrats die Fraktion DIE LINKE. an und die SPD versuchte, über einen Änderungsantrag mit einzusteigen. Nach langen Diskussion im Rathaus, an der auch Fridays for Future F4F Jena und die Gruppe der Extinction Rebellion Jena zu Wort kommen durften, vertagten sich die Stadträtinnen und Stadträte bis nach der Sommerpause und wollten diese nutzen, um eine umfangreiche Vorlage mit einem großen Konsens und vor allem konkreten Aufgaben für die Stadt Jena zu erarbeiten.

KSJ-Werkleiter Uwe Feige, Ministerin Anja Siegesmund und Christopher Helbig (KSJ). – Foto © Stadt Jena

Das gelang und am 4. September wurde die Vorlage unter den Titel „Der Klimakrise mit höchster Priorität begegnen“ von den Fraktionen DIE LINKE., Bündnis 90/Die Grünen, FDP, SPD, CDU, Bürger für Jena und den Einzelstadträten Herrn Prof. Schubert und Frau Neumann sowie Herrn Bürgermeister Gerlitz eingereicht – ohne das Wörtchen „Klimanotstand“. Ihrem Inhalt kann man 11 konkrete Handlungsoptionen entnehmen, angefangen bei den Nachhaltigkeitszielen der Stadt Jena über die Einrichtung einer kommunalen Klimaschutzkoordinationsstelle, einem Check der Klimaauswirkungen sämtlicher Stadtratsbeschlüsse der Zukunft bis hin zu einer klima- und umweltschonenden Modernisierung des Fuhrparks von JeNah plus Stadtverwaltung und Eigenbetriebe und noch mehr. Nach langer Diskussion und weiteren F4F-Redebeiträgen wurde die Vorlage nahezu einstimmig beschlossen.

Anschließend wurde noch eine weitere Vorlage unter dem Titel „Klimanotstand: Der Klimakrise mit höchster Priorität begegnen“ aufgerufen, die angeblich eine Wiedervorlage vom Juli hätte sein sollen, aber durch Blattaustausch zu einem Leichtgewicht wurde mit nur noch einem Punkt und zwar: „Der Jenaer Stadtrat erkennt die Klimakrise als alle relevanten Lebensbereiche betreffende Herausforderung an und stellt sich dieser in allen Politikfeldern. In diesem Zusammenhang reagiert der Stadtrat auf die Forderungen von Fridays for Future und ruft den ‚Klimanotstand‘ (englisch ‚Climate Emergency‘ aus.“ – Mehr nicht. Eine wohl ursprünglich vorgesehene Aufforderung, der Jenaer Stadtverwaltung „im Zuge des Notstandes“ Handlungsspielraum einzuräumen, Sofortmaßnahmen zur Eindämmung der Klimaauswirkungen zu ergreifen und sofortige Maßnahmen zur Verringerung von klimaschädlichen Emissionen im laufenden Verwaltungshandeln umzusetzen, fehlt im Beschlusstext.

Beschlossen wurde die Vorlage gleichwohl – ein „zhilaohu“ oder „Papiertiger“ wie Mao Zedong es einst nannte. Interessant ist, was Frau Siegesmund am Morgen danach in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur aus diesem Papiertiger machte. Unter anderm der ARD Text, als auch n-tv, der MDR oder die Süddeutsche Zeitung meldeten sogleich, dass die Spitzenkandidatin der Thüringer Grünen erklärt habe (Zitat) „Künftig werden alle politischen Entscheidungen an der Klimafrage gemessen.“ – Gut – gegen eine solche persönliche Interpretation ist im Grunde nichts einzuwenden.

Seit der Kommunalwahl Ende Mai 2019 sind die Grünen im Stadtrat Jena mit neun Sitzen vertreten. – Foto: Bündnis 90/Die Grünen Jena

Ein weiterer Textteil (Zitat) „Die Grüne-Fraktion im Jenaer Stadtrat hatte den Antrag zum Klimanotstand eingebracht, der am Mittwoch angenommen wurde.“ ist unter dem Lichte des Wahlkampf auch irgendwie noch akzeptabel, obwohl es strenggenommen eine Vorlage der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, DIE LINKE. und SPD war. Doch fügte die Umweltministerin gegenüber der dpa an: Wer ein Stadtquartier neu entwickele, müsse es nach Ausrufen des Klimanotstands von nun an (Zitat) „unter der Maßgabe von Stadthitze oder Starkregen planen.“ Dazu gehöre auch das Begrünen von Stadtdächern oder der Blick auf Stadtbäume als Schattenspender.

Das jedoch hat niemand im Jenaer Stadtrat so beschlossen – weder als es um das Ausrufen des Klimanotstands ging noch im Rahmen der entschärften Vorlage „Der Klimakrise mit höchster Priorität begegnen“. Richtig ist aber, dass am 5. September eine Vorlage von B’90/Die Grünen unter dem Titel „Anreize und Regulierungen für mehr Bäume und Grünflächen in der Stadt Jena“ behandelt und abschließend in die zuständigen Ausschüsse verwiesen worden ist. Hierin geht es mittelbar um Stadthitze oder Starkregen und unmittelbar um das Begrünen von Stadtdächern oder um Stadtbäume als Schattenspender. Möglicherweise hat Frau Siegesmund das nicht gewusst, als sie mit der dpa sprach, oder sie war falsch informiert worden. Ihre Äußerungen wurden jedoch bundesweit so zitiert unter „Klimanotstand“ und „Jena“.

Wie besagt es ein altes russisches Sprichwort: „Кто не рискует, тот не пьет шампанское.“ / „Wer nichts wagt, trinkt keinen Champagner.“ – Meint: Mit ein klein wenig schwindeln lässt sich alles besser verkaufen.

Ein Kommentar von Wolfgang Wolf





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