„EISENACH – 4. NOVEMBER 2011“: Wie Egon Schubert auf dem Weg zu Lidl etwas Ungewöhnliches auffiel

04.11.19 • AUS DER REGION, JEZT AKTUELL, NEWSCONTAINER, POLITIK & URBANES LEBEN, STARTKommentare deaktiviert für „EISENACH – 4. NOVEMBER 2011“: Wie Egon Schubert auf dem Weg zu Lidl etwas Ungewöhnliches auffiel

ZONO Radio Jena - 4. November 2011 - Teaser
Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt Ende der 1990er Jahre und Ende der 2000er – Bildquellen: Landeskriminalamt Thüringen / Bundeskriminalamt

(Text: Tim Schwarz aus „4. November 2011 – Ein Hörspiel“)

An dem betreffenden Freitag stand Egon Schubert* kurz vor 9:00 Uhr auf. Nachdem er sich gewaschen hatte, kleidete er sich an, zog sich die schwarze Lederjacke über, setzte den grünen Filzhut auf den Kopf, nahm seinen Stoffbeutel in die Hand verließ gegen 9:30 Uhr seinen Plattenbau in thüringischen Eisenach, um Brötchen und Milch zu holen. Schubert ist ein korrekter Mensch, der drei Jahrzehnte lang beim DDR-Zoll gearbeitet hatte, Pakete kontrollierte, manche davon entsprechend den Vorschriften öffnete um nachzusehen, ob alles darin den Vorschriften entsprach, seine Richtigkeit hatte. Als Zöllner hatte man stets aufmerksam zu sein – gelernt ist gelernt.

Kurz nach der Wende erlebte Egon Schubert eine Zäsur in seinem Leben: Die neue, große Bundesrepublik hatte für den damals 55-Jährigen keine Verwendung mehr und schickte ihn in den Vorruhestand – eine Abfindung gab es für seinesgleichen nicht. Da seine Rente knapp war, half Schubert einige Jahre lang für die Firma Lidl & Schwarz im Kaufland aus und räumte dort Regale ein. Heute, im November 2011, ist er 75 Jahre alt und lebt von etwas mehr als 1.000 Euro Rente. Lidl bleibt er über die Jahre stets verbunden und kauft die Dinge seines täglichen Bedarfs bevorzugt dort ein. Und er prüft bei dem Discounter mit seinen geübten Augen, wie seine Nachfolger heute die Regale bestücken. Manchmal schüttelt er darüber den Kopf, dann wieder lächelt er still.

Egon Schubert ist in den vielen Jahre nach der Wende seines Lebens und dem Ende der DDR stets ein bescheidener Mensch geblieben, hat die Lebensverhältnisse hingenommen und sich, wie er betont, noch nie über irgendetwas beklagt. Das gilt auch für die 300.000 Euro, die von der Landesregierung Baden-Württemberg seit dem Jahre 2007 als Belohnung für Hinweise ausgesetzt waren, die zur Ermittlung der Mörder an der Polizistin Michèle Kiesewetter führen. Bislang ist nichts von der Belohnung ausgezahlt worden, wie ein Sprecher des baden-württembergischen Innenministers berichtet. Es hätte sich bis heute noch niemand gemeldet, heißt es. Oder besser gesagt: Egon Schubert hat sich noch nicht gemeldet.

An diesem 4. November 2011 verlässt der 75-jährige gegen 9:30 Uhr den Plattenbau. Seine tägliche Lebensplanung ist strukturiert und zu ihr gehört der morgendliche Gang zum Lidl-Markt. Man könnte fast soweit gehen, zu sagen: jeder Tag in Schuberts Leben verläuft in geordneten Bahnen und Ungewöhnliches fällt dem Ruheständler dabei natürlich auf, wenn er nach dem Einkauf eine Runde durchs Viertel dreht, um seine Lebensgefährtin zu besuchen. Den Nachmittag und Abend lässt man für gewöhnlich gemeinsam, ab und an aber auch jeder in seiner Wohnung vor dem Fernseher ausklingen.

JEZT - Überwachungsaufnahmen aus dem Haus Fruehlingsstrasse 26 in Zwickau - Uwe Mundlos - Uwe Boehnhardt - Wohnmobil - Fotos © BKA ARD Fakt
Überwachungsaufnahmen aus dem Haus Fruehlingsstrasse 26 in Zwickau: Uwe Mundlos, Uwe Boehnhardt, Wohnmobil – Fotos © BKA ARD Fakt

Inzwischen ist es 9:40 Uhr, der Lidl-Markt liegt etwa einen halben Kilometer entfernt in Stregda und ist über einen asphaltierten Weg gut zu erreichen. Schubert läuft wie jeden Tag durch die mit Graffitos besprühte Autobahnunterführung, über die längst keine Autobahn mehr führt, kommt gleich, auf der anderen Seite an einer stillgelegten Diskothek vorbei, die immer noch „MAD“ heißt, was eine Kurzbezeichnung für „Music, Action und Dance“ ist. Egon Schubert erinnert der Name, wie er später berichtet, an den bundesdeutschen „Militärischen Abschirmdienst“. Mit mehr als 30.000 Gästen im Monat war das „MAD“ einst die größte Diskothek im Freistaat Thüringen mit einem riesigen Parkplatz für die vielen Gäste, doch die Zeiten ändern sich und seit seiner Schließung im Frühjahr 2010 steht der Tanztempel leer, der Parkplatz ist verwaist.

Schubert erreicht an diesem 4. November die Feuerwehr-Auffahrt zum „MAD“ und bemerkt etwas Ungewöhnliches: ein weißes Wohnmobil, das einsam auf dem Parkplatz steht. Seis drum, denkt Egon Schubert, doch dann erregt an diesem Vormittag eine weitere ungewöhnliche Sache seine Aufmerksamkeit: Zwei Radler kommen in Schuberts Blickfeld, der weiter in Richtung Lidl-Markt geht. Beide Männer sind etwa 30 Jahre alt, steuern auf das Wohnmobil zu. Der Rentner kann aus 20 Metern Entfernung sehen, wie einer der Männer in offensichtlicher Eile die Fahrräder in das Mobil hebt und dann ins Fahrzeug klettert, der andere öffnet die Fahrertür und steigt ein, das Wohnmobil startet und zügig fahren die Männer los.

Als sie vom Parkplatz in Richtung Norden abbiegen, kann Egon Schubert für einen kurzen Moment das Kennzeichen erkennen: es beginnt mit dem Buchstaben V. Der 75-Jährige setzt seinen Weg zum Lidl-Markt unbeirtt fort und schnell ist das Wohnmobil aus seinen Augen entschwunden. Was der Rentner nicht ahnt: Er ist der Letzte, der die beiden Fahrradfahrer lebend gesehen hat. Eine Sache geht Schubert derweil nicht aus dem Kopf und im Discountermarkt grübelt er, wofür das V auf dem Kennzeichen stehen könnte: Viernheim, Vacha, Velten?

Es ist inzwischen schon kurz nach 10:00 Uhr, Egon Schubert hat Wasserflaschen in seinen Beutel getan, Brötchen, Bananen. Auf die Milch muss er warten, die wird gerade auf einer Euro-Palette mit der Ameise aus dem Lager geholt. Nachdem er alles auf das Kassenband gelegt, bezahlt und wieder in seinem Beutel verstaut hat, tritt er kurz vor halb elf den Heimweg an. Unbekümmert geht er die Straße hinunter, vorbei an dem mittlerweile leeren Parkplatz und bemerkt das nächste Ungewöhnliche an diesem Freitag: ein Polizeiauto, davor zwei Streifenbeamte. Einer von ihnen fragt eine vorbeikommende Frau mit lauter Stimme, ob sie zwei Männer auf Fahrrädern gesehen habe. Die Frau verneint, doch Egon Schubert ist von der Frage wie vom Donner gerührt, geht schnell auf die Beamten zu und ruft in ihre Richtung: „Aber ich. Ich habe die gesehen!“

Eisenach-Stregda: Straße „Am Schafrain“ am 04.11.2017. – Foto © MediaPool Jena

In knappen Worten schildert der ehemalige Zöllner den Beamten seine Beobachtungen, führt sie zu dem Parkplatz und zeigt auf die Reifenspuren, die das Wohnmobil im Schotter hinterlassen hat. Über Funk geben die Polizisten die Informationen weiter. Die Durchsage der Zentrale von kurz vor 10:50 Uhr lautet, dass die Täter vermutlich in einem weißen Wohnmobil geflüchtet sind, mit dem Kennzeichenfragment V für den Vogtlandkreis. „Bei dem V war sich der Zeuge sicher“, heißt es über Funk. Schubert selbst fragt bei den Polizisten nach und erfährt, dass die beiden Männer wahrscheinlich eine Sparkasse überfallen haben. Der Pensionär macht seine persönlichen Angaben und schüttelt dabei ungläubig den Kopf, fragt sich, ob er tatsächlich zwei Bankräuber auf der Flucht gesehen hat – „das ist ja ’n Ding“. Aufgeregt geht er nach seiner Zeugenaussage nach Hause.

Am Nachmittag des 4. November 2011 klingelt die Kriminalpolizei bei ihm. Nun muss der Pensionär eine Vernehmung über sich ergehen lassen und erfährt, dass er – Egon Schubert – als wichtiger Tippgeber nun ganz offiziell als Zeuge in einem Raub- und Tötungsdelikt geführt wird. Denn anderthalb Stunden nach Schuberts Hinweisen konnten Kriminalbeamte das Fluchtfahrzeug aufspüren. Einer Streife war das Wohnmobil mit dem Kennzeichen V-MK 1121 im Eisenacher Stadtteil Stregda aufgefallen. Unmittelbar vor dem Polizeizugriff erschossen sich die beiden Männer im Inneren des Fahrzeugs.

Bereits das schockiert den 75-Jährigen, richtige Angst bekommt Egon Schubert jedoch, als bekannt wird, dass die beiden dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ angehörten und insgesamt zehn Menschen kaltblütig ermordet haben. Der Pensionär fragt sich bis heute, was passiert wäre, wenn er direkt an dem Wohnmobil vorbei gelaufen oder darauf zugegangen wäre. Vielleicht hätten sie ihn dann erschossen, da er ja der Einzige war, der das Fluchtauto gesehen hatte. Natürlich hätte sich Egon Schubert darüber gefreut, wenn man sich bei ihm wegen des Tipps von damals bedankt hätte. Als die Kripobeamten am 4. November 2011 seine Aussage zu Protokoll nahmen, hatte ihm ein Kripo-Mann versprochen, dass man sich bald wieder melden werde. Dieser lange Moment dauert bis heute an. Ebenso das Warten auf irgendeine Form der Anerkennung. Aber Herr Schubert ist bescheiden, fährt weiter einen uralten Volkswagen und lebt in seinem DDR-Plattenbau ohne Telefon.

Klar ist: Ohne den Tipp des aufmerksamen Rentners wären Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt vermutlich nicht gestellt worden, Beate Zschäpe nicht verurteilt, wobei jeder Tag im sog. „NSU“-Prozess den Staat rund 150.000 Euro gekostet hat. Ohne Egon Schubert, der weiter mit seiner mageren Rente im Leben zurecht kommt, hätte es das Ende des „NSU“ womöglich nicht gegeben und das Terror-Trio hätte weitere Verbrechen begehen können.

* = Name geändert





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