Im Dschungel der Großstadt (1): „Fifty Shades Of Play – Schau zu, wie Frauen mit Frauen chillen und sich entspannen“
Lukas, der Fünfjährige, auf den aufzupassen ich vor Jahren meinem Freund von Greenpeace versprochen hatte, war inzwischen in die Pubertät gekommen und jedes Mal, wenn ich ihn sehe, ist der Zug der Zeit für mich keine Erfindung der GDL mehr sondern bittere Realität.
Überhaupt hatte sich viel verändert in den letzten Jahren. Mein Greenpeace-Freund ist inzwischen verbeamteter Staatssekretär im Thüringer Umweltministerium geworden, zuständig für die Rückführung von afrikanischen Wanderdünen, während dem sein Sohn im Internet Rollenspiele für diverse Webseiten entwickelt, wegen denen er auf meine Rückfragen hierzu äußert gereizt reagiert.
Ich selbst habe inzwischen auch die Fronten gewechselt und bin vom Fußfetischismus umgestiegen auf asiatische Massagen, blieb den weiblichen Füßen aber trotzdem noch verbunden, denn ab und an lasse ich meinem Rücken im Hinterzimmer des ‚Dr. Wok‘ durch geschickte Fußmassage von Ling-Liu, die dort immer noch als Bedienung arbeitet, Linderung angedeien. Außerden fröne ich seit einiger Zeit im Keller meines Herrn Staatssekretärs einem eher ungewöhnlichen Hobby, das mit mir als Frau ungefähr genauso viel zu tun hat, wie ein Eierschneider mit den Hinrichtugen des IS: ich baue dort mit bunten Kunststoffsteinen fremde Welten.
„Na, Tante Napoli“, sagte Lukas zu mir als ich ins Haus kam, ohne den Blick vom 40-Zoll Computerbildschirm zu nehmen. „Baust Du immer noch an Gandalf, dem Grauen? Oder ist es heute Gandalf, der Weiße?“ Natürlich ignoriere ich solch provozierende Fragen, muss sie aber gleichwohl ertragen, denn es waren ja nicht meine Kunststoffsteine, die ich vom Dachboden nach unten in den Keller des Hauses meines Freundes trug. So viele Legosteine hatte der inzwischen fünfzehnjährige Lukas im Laufe seines Lebens Weihnachten für Weihnachten von seinem Vater erhalten, dass sie inzwischen mehr als zehn Kisten auf dem Speicher füllten. Seit zwei Wochen schon schleppte ich also die Steine nach unten, verbaute sie zur Felsenfestung ‚Minas Tirith‘ und dem Feuerberg im Herzen von Mordor, zum Auenland und anderen Orten Mittelerdes und hielt mich dabei streng an die Angaben in J.R.R. Tolkins Almanach, den ich letztes Jahr eher zufällig in Lukas Zimmer gefunden und der mich sofort fasziniert hatte. Gut, ich gebe zu, dass man Babysittig engagierten betreiben kann, als ich es tat, schon gar für zwanzig Euro die Stunde, aber – um es in der Philosophie von Elisabeth von Grunelius auszudrücken – bei uns. also Lukas und mir, macht Freitags um eins jeder seins.
In den letzten Wochen war auf diese Weise im Keller des Hauses ein richtiges ‚Herr der Ringe‘-Wunderland entstanden und seit gestern bastelte ich, während Staatssekrtär Ulf Müller im mundaufgeblasenen Gummiboot (der Kautschuk stammt selbstverständlich aus fairem Handel mit Amazonasureinwohnern) die Saale abwärts trieb, auf der Suche nach Jungbibern, für die sich der Bau einer wintertauglichen Strohhalmpipeline für Glühwein lohnen könnte, an den einzelnen Protagonisten der Fantasy-Sage. Frodo, Streicher, Sam und Bilbo waren entstanden, Saruman, Legulas, die Elbenkönigin, die Ringgeister und … aber hallo! Wieso wusste Lukas, dass ich gerade an Gandalf baute? Und wieso konnte der Rotzlöffel unterscheiden, ob es Gandalf, der Graue oder Gandalf, der Weiße war? Exakt in diesem Momemt ahnte ich bereits etwas, das ich nicht näher beschreiben konnte, aber die Kraft der Ahnung zog mich mit Macht nach oben in Richtung von Lukas Zimmer.
Auf Zehenspitzen, um ein Dielenknarren auf der Treppe zu vermeiden, schlich ich mich in den zweiten Stock, ging vorsichtig zur fast geschlossenen Zimmertür des jungen Mannes und spähte durch den Spalt hinein. Lukas saß wie immer vor dem Bildschirm seines Computers, hatte seinem Controller in der Hand und steuerte, soviel konnte man auf dem Monitor erkennen, eine Kamera behutsam durch eine Landschaft von … Legosteinen. – Kein Zweifel: Es war meine Tolkienwelt aus dem Keller des Hauses. Aber ich sah noch mehr. An der Wand hinter dem 40-Zoll-Bildschirm hingen Poster für eine Webseite namens www.legolas.tv mit dem anspruchsvollen Untertitel „Die Entstehung von Mittelerde – Schau live und online dabei zu!“.
Und mit einem Mal war mir alles klar: Lukas hatte mich absichtlich dazu gebracht im Keller seines Hauses im Winzerlaer Erdbeerweg eine Fantasywelt zu bauen und vom ersten Tag an alles via Kamera im Internet übertragen. Gerade wollte ich entrüstet die Tür zu Lukas Zimmer aufreißen, da fiel mir ein weiteres Poster an der Zimmerwand auf. „Asiatische Massagen Webcam“ war darauf zu lesen und ich erkannte unschwer, wer sich da nackt und entspannt unter Ling-Lius Füßen befand. Jetzt dämmerte es mir, jetzt wurde mir klar, warum mich die Kids auf der Straße seit einigen Tagen so nett gegrüßt hatten und warum Ling-Liu sich in letzter Zeit vor den Massagen aufwendig schminkte.
Ich, Jenareporterin Jane Napoli, war unfreiwillig zu einem Internetstar geworden oder wie Lukas es benannt hatte: „Schau bei ‚Fifty Shades Of Play‘ zu, wie Frauen mit Frauen chillen und sich entspannen. Im Jumbo-Abo für nur 9 Euro 99 im Monat. Diskret und garantiert nicht gestellt.“ – In diesem Moment schwor ich bei Gott, dass ich meine Pflichten als Babysitterin in Zukunft etwas ernster nehmen werde. Mit ruhiger Hand, aber „würdevoll“, wie es Papst Franziskus ausgedrückt hatte.
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