Rainer Sauer „Mein Vierteljahrhundert in Jena“ – Teil 1: Der Mensch nicht vom Geld alleine
Seit bald einem Vierteljahrhundert ist Jena meine Heimat geworden und so denke ich auch heute, da ich in am Hafen von Antalya sitze, auf die Ausläufer des Taurus-Gebirges blicke – 2.850 Kilometer von den Kernbergen entfernt – an unsere Stadt, denn ich habe mich dafür entschieden, an dieser Stelle in den nächsten Monaten immer wieder einmal zurück zu blicken an die Zeiten des Neubeginns in Jena nach der Wende.
Ohne Zweifel hat sich in Jena und der Region vieles geändert seit Ende 1990. In den Köpfen der Menschen, in ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen, im Zusammenleben und beim Thema Geld. Doch lebt der Mensch nicht vom Geld alleine und so war das schon immer auch in Jena.
In unserer Stadt war und ist seit Jahrhunderten der wissenschaftliche Fortschritt zuhause, der Liberalismus und damit einhergehend die Freiheit alles denken und sagen zu dürfen. Lebensqualität ist eben auch eine Kopfangelegenheit – zu Luthers wie zu unseren Zeiten, obwohl: das mit dem „sagen dürfen“ war zu DDR-Zeiten anders. Roland Jahn ist für mich der zeitgeistige Beweis dafür, was sich gerade im letzten Vierteljahrhundert in Jena geändert hat. Die Menschen fordern nun ihre Rechte ein, ohne dass man sie dafür mit Zuchthaus bedroht. Das ist gut und richtig, so lange man dabei auch die Pflichten des Zusammenlebens nicht vergisst. Ein geistig-moralischees „Pflichtenheft“ zu führen – was spricht dagegen?
Das Thema der allumfassenden Information beschäftigt die Jenaerinnen und Jenaer im November 2015 ebenso wie im November 1991, als ich, nachdem ich wenige Monate zuvor erstmals Jenaer Boden betreten hatte, meine erste feste Wohnung in unserer Stadt bezog. Als lokale Informationsquellen dienten damals OTZ und TLZ und der Allgemeine Anzeiger. Lokales Radio oder den MDR gab es damals noch nicht; der Deutsche Fernsehfunk DFF ging – ebenso wie Tausende hochqualifizierter Zeissianer – in die „Abwicklung“. Die direkte Nachwendezeit war hart für die Menschen, es gab viel Verzweiflung und große Fragezeichen bei der persönlichen Perspektive. Gleichzeitig war aber auch der Geist des Aufbruchs zu erleben, der Wille die Zukunft zu gestalten und es war mein Mentor, Dr. Heinz-Dieter Limpert (der ehemalige Direktor des Jenaer Büros für Städtebau und Architektur holte ich einst nach Jena in sein neues Bauverwaltungsamt), der mich in die perspektivischen Wünsche, Ziele und Zwänge des Jenaer Städtebaus einweihte.
Das war eine Zeit, in der man mit Trojan & Trojan und anderen zusammenarbeitete an ganz neuen Konzepten der Innenstadtgestaltung und als verantwortlicher Leiter des Bauaktenarchivs bekam ich dabei Einblicke in Dinge, die mich bis heute bewegen und bestimmen. Was verloren ging aus dieser Zeit? Vor allem der große Blick auf die Dinge. Heute arbeiten sich Kleingeister unter dem Mantel der investigativen Berichterstattung an Belanglosigkeiten ab, wie dem richtigen Pflaster für eine Rinne, nicht geleerten Abfallbehältern oder fehlenden TÜV-Plaketten in Fahrstühlen. Andere reden begeistert von Stadtentwicklung, wenn sie ohne die Stadt Jena zu fragen Blumen auf öffentlichem Grund pflanzen oder irgendwo eine neue Ampel hinsetzen. Dr. Limpert organisierte seinerzeit regelmäßig Ausstellungen, ließ Stadtmodelle bauen, lud Städtebauexperten zu Symposien nach Jena ein. Er starb viel zu früh nur kurz nach seiner Pensionierung und ich glaube, dass ich beurteilen kann: dieser Mann fehlt unserer Stadt gerade heute.
Da die lokalen Informationsquellen in Jena anfangs beschränkt waren, der Wille zur freien Berichterstattung aber ungezähmt, bestritten Mitte der 1990er Jahre einige Menschen unserer Stadt eigene Wege, starteten JenaTV oder gründeten den Verein, aus dem später der Offene Hörfunkkanal hervorging – einige Jahre mit Jens Thomas als Vorsitzenden und mir als dessen Stellvertreter. Dies war sozusagen die Quelle des Projektes „JEZT“ und Teil seiner Entwicklung.
Um Sendelizenzen zu bekommen und zu erhalten musste und muss man weiterhin Qualitätskriterien erfüllen, Gesetze einhalten, in seiner Berichterstattung wahrhaftig sein. Ansonsten griff die Landesmedienanstalt ein. Anders bei einem Medium, das heute in unserer Welt wie selbstverständlich vorkommt, vor einem Vierteljahrhundert aber undenkbar schien: das Internet. „Der SPIEGEL hat die Wahrheit nicht gepachtet, aber er sucht danach“, sagte vor Kurzem Klaus Brinkbäumer, seines Zeichens Chefredakteur des Hamburger Nachrichtenmagazins, das sich seit Jahrzehnten als Maxime gesetzt hat: Meinung ist wichtig, darf aber niemals die Nachricht ersetzen. Im Internet jedoch teilen einige Menschen weder Brinkbäumers Sicht noch erfüllen sie Qualitätskriterien und an Gesetze halten scheint eher lästig. Man „ist so frei“ und nennt sich einfach Journalist, auch wenn er diesen Beruf – man kann ihn erlernen oder studieren – nur vom Hörensagen kennt. Man mag das neudeutsch als „cool“ empfinden, aber was Hänschen nicht gelernt hat…
Ich habe es vor Kurzem wieder einmal selbst erfahren dürfen, wie unverantwortlich einige Journalisten in Jena mit der Wahrheit umgehen, wie skrupellos sie unwahre Tatsachenbehauptungen in die Welt setzen und anschließend Gegendarstellungen, die sie nach § 11 des Thüringer Pressegesetzes veröffentlichen müssten, verweigern. Dass Internet-Nachrichtenblogs keine Geschäftsmodelle sind, von dem man leben kann ohne einer anderen Arbeit nachgehen zu müssen, das hat sich inzwischen auch bis zu Jenapolis herumgesprochen. Aber dass man aus ureigenstem Interesse Regeln einzuhalten hat, um bei den Lesern an Seriosität zu gewinnen und sie langfristig an sich zu binden – die Jenaer Nachrichten von Michael Baumgarten, dem Marktführer bei freien Internet-Nachrichten-Blogs in Jena und der Region zeigen dies eindrücklich – ist bei Leuten wie Tobias Netzbandt scheinbar noch immer nicht angekommen. Auch das ist die Realität des Jahres 2015.
In diesem Sinne
Ihr
Rainer Sauer (derzeit in der Türkei)
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