„GG: Die große Unbekannte“: Einige Bemerkungen zur Journalistin Gabriele Goettle anlässlich ihres 71. Geburtstags

31.05.17 • INTERESSANTES, JEZT AKTUELL, KULTUR & BILDUNG, NEWSCONTAINER, RADIO JENA, START, UNSER JENAKeine Kommentare zu „GG: Die große Unbekannte“: Einige Bemerkungen zur Journalistin Gabriele Goettle anlässlich ihres 71. Geburtstags

Gabriele Goettle: „Die große Unbekannte“ – Abbildung © MediaPool Jena

Ausgabe 1 der Berliner Frauenhefte „Die Schwarze Botin“. – Abbildung © MediaPool Jena

„Es war einmal ein kleines süßes Mädchen, das hatte jedermann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Samt, und weil ihm das so wohl stand, und es nichts anders mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen.“

Der Name Gabriele Goettle war mir bereits ein Begriff, noch bevor ich sie für mich als Autorin entdeckte. Der Start der anarcho-feministischen Zeitschrfit „Die schwarze Botin“ – herausgegeben in Berlin von Brigitte Claasen und eben dieser GG – fiel genau in den Beginn meiner kurzen aktiven Zeit als Sänger der Frankfurter Politrockband Fließband. Das war sozusagen meine Sturm- und Drangzeit in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Als männlicher Politrocksänger interessierte man sich damals nicht für linke Feministinnenzeitschriften – aber gelesen habe ich sie damals schon, auch die „Botin“, denn als Texter wollte ich natürlich an keinem Reizthema einer möglichen Zielgruppe vorbei arbeiten und da hatte mann sich umfassend zu informieren.

„Deutsche Märchen“ – Symbolfoto Bucheinband von 1939 © MediaPool Jena

Die im Westen Deutschlands in Aschaffenburg geborene, aber unweit des Bundesverfassungsgerichts aufgewachsene, GG zog in den 1960ern nach Berlin und studierte zuerst Bildhauerei und Literaturwissenschaft, dann Religionswissenschaft und Kunstgeschichte. Das war die Zeit, als sich dort nach dem Tod von Benno Ohnesorg die sog. 68er-Bewegung formierte, als man endlos diskutierte und für alle Ideen und jeden Menschen offen war, der sich gegen verkrustete Zeiten stellte. Aus den USA war Freiheit nach Berlin geschwappt und wurde genutzt – aber bitte nicht zu offensichtlich befand der Senat. Schließlich lebte man in Berlin-West auf einer Insel und drumherum saß „der Russe“. Heidi Wiebrecht-Masuch, Ulla Meinecke und Heiner Pudelko sei Dank, dass ich dies heute besser verstehen kann, denn die „Gnade meiner späten Geburt“ Ende der 1950er Jahre verhinderte, dass ich die Zeit ein Jahrzehnt später allzu hautnah mitbekam.

Gabriele Goettle suchte und fand ihre Bestimmung in Berlin-West, gab ab Mitte der 1970er Jahre die „Botin“ heraus und konnte ab 1980 als freie Autorin – was sie bis heute geblieben ist – für die tageszeitung (taz) oder die Wochenzeitung Die Zeit kleine Essays schreiben, über Körperkultur, darüber, was Schülerinnen von Adolf Hitler denken oder über die Artenexplosion der Plüschtierwelt – der taz ist Goettle bis heute treu geblieben und die Leser ihr. 1987 leitete GG die Schriftsteller-taz als temporäre Chefin mit Hans Magnus Enzensberger als einer ihrer Redakteure und stiller Verehrer ihrer Art, Journalismus in Schriftstellerei zu wandeln.

Rattenkönig Birlibi auf dem Buchcover von Gabriele Goettles „Freibank“ – Abbildung © Critica Diabolis EditionTiamat

Einige Reportagen, der an Günther Anders geschulten Autorin, über den Alltag in der BRD und West-Berlin (bei der taz seinerzeit unter dem Ressorttitel „Freibank“ veröffentlicht), mündeten im Herbst 1991 in das Buch „Freibank. Kultur minderer Güte amtlich geprüft.“ der Edition Tiamat/Berlin; Goettle begann es mit einem acht Zeilen langen Dialog zwischen einem Piloten und dessen Co-Piloten unmittelbar vor dem Absturz ihres Flugzeugs. Bereits im Juli des gleichen Jahres hatte GG mit „Deutsche Sitten. Erkundungen in Ost und West“ (für Enzensbergers „Die Andere Bibliothek“ im Eichborn-Verlag) ihre erste, Aufsehen erregende weil ungewöhnlich anders aufgebaute, Buchpublikation veröffentlicht.

Spätestens mit dem Nachfolgewerk „Deutsche Bräuche. Ermittlungen in Ost und West“ (1994, wieder bei Enzensberger / Eichborn erschienen) wurde Goettle als „berühmteste unbekannte Journalistin des Landes“ ein Begriff, mit der außergewöhnlichen Begabung, Fremde dazu zu bewegen, Einblick in ihre geheimen Leben zu geben. Unterstützt wurde sie hierbei kongenial durch ihre Lebenspartnerin der letzten vier Jahrzehnte, Elisabeth Kmölniger, die stets die passenden Fotobeschreibungen zu Goettles Berichten fand. Der schon 1990 verstorbene Erzähler, Journalist, Essayist, Publizist und Literaturkritiker Joachim Günther schwärmte von Gabriele Goettles Talent, „sich Einzelschicksale erzählen zu lassen, dem Individuum Stimme zu geben und eben damit das Allgemeine, die Physiognomie deutscher Verhältnisse, fasslich zu machen.“ Inzwischen ist Goettle gewähltes Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland geworden.

Die „Deutsche Trilogie“ von Gabriele Goettle – Buchcoverabbildungen © Eichborn Verlag Frankfurt

Schlussteil der „Deutsche Trilogie“ des Duos Goettle / Kmölniger wurden die 1997 erschienenen „Deutsche Spuren. Erkenntnisse aus Ost und West“, veröffentlicht wiederum bei Enzensberger /Eichborn – Klappentext: „Ihre Neugier gibt keine Ruhe, ihr Material ist unerschöpflich, ihre Methode ohne Vorbild“. Aber auch damit waren die für GG interessanten Themen noch lange nicht abgearbeitet, die Suche nicht beendet. Wie auch, da doch eine neues Jahrtausend vor der Tür stand. Ähnlich wie Günter Wallraff – aber im Ansatz völlig anders – tauchte Goettle in Welten ein, die ihr zuvor unbekannt waren und dabei schrieb sie nie das auf, was sie suchte sondern immer das, was sie fand. Regelmäßig veröffentlichte die Journalistin in der taz Berichte, die zum Teil später Aufnahme in ihre Bücher „Die Ärmsten! Wahre Geschichten aus dem arbeitslosen Leben.“ (2000 erschienen in Enzensbergers „Die Andere Bibliothek“ bei Eichborn), „Experten. Die stillen Stars der Kompetenz.“ (2004, Enzensberger / Eichborn) und „Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag.“ (erschienen 2012 beim Antje Kunstmann Verlag) fanden.

Die „Andere Trilogie“ von Gabriele Goettle – Buchcoverabbildungen © Eichborn Verlag Kunstmann Verlag

In den Jahren ihres Schaffens erhielt Gabriele Goettle mehrere Preise, mit denen sie stets unkonventionell umging. Den Ben-Witter-Preis gab es im Jahre 1995 für ihre 68er-Spurensuche „Wer ist Dorothea Ridder? Rekonstruktion einer beschädigten Erinnerung.“ (2009 als Buch erschienen bei Edition Tiamat). 1999 wurde sie mit dem Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen ausgezeichnet; drei Jahre später überließ ihr Enzensberger das Preisgeld für den ihm verliehenen Ludwig-Börne-Preis. 2015 verlieh ihr die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay (Begründung der Jury siehe unten). Dieser Preisverleihung blieb Gabriele Goettle („aus gesundheitlichen Gründen“, wie es hieß – aber sie meidet generell die Öffentlichket) fern und nahm auch das Preisgeld in Höhe von 20.000 Euro nicht an, da es vom Pharmaunternehmen Merck gestiftet worden war. Stattdessen leitete sie die 20.000 Euro an die pharmakritische Initiative BUKO weiter. Im selben Jahr wurde GG mit dem Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim geehrt.

Ob die Ablehnung des Merck-Preisgeldes mit Goettles 2014 veröffentlichtem Buch „Haupt- und Nebenwirkungen: zur Katastrophe des Gesundheits- und Sozialsystems.“ (Kunstmann Verlag) zu tun hat, ist ebenso Spekulation wie die Feststellung einiger Kenner, die meinen, der Namensgeber selbst, wäre für den Preis nie in Frage gekommen. Auch deshalb, weil es zu GGs Prinzipien gehört, selbst für Interviews nicht zur Verfügung zu stehen, wie ich vor fünfzehn Jahren erfahren musste, als ich sie vergeblich vor das Radiomikrofon holen wollte. „Wenn ich irgendwann einmal nach Jena komme, melde ich mich vielleicht bei Ihnen“, war die letzte Nachricht, die ich von GG erhielt.

2012 widmete Lutz Mühlfriedel ihr und ihren Reisen in einen unbekannten Alltag eine komplette Sendung im Rahmen von „Re-PopSunday“ bei ZONO Radio Jena. Doch auch ganz woanders hat Gabriele Goettle ihre Fans. So bezeichnete Beststellerautor Frank Schirrmacher Goettle in der FAZ als (Zitat) „eine der wichtigsten literarischen Stimmen unserer Zeit“ und Heinz Rudolf Kunze vertonte eine Geschichte aus ihrem Buch „Deutsche Sitten“ zu dem Lied „Goethes Banjo“ (enthalten auf dem Album „Kunze Macht Musik“). Das war auch der Moment, als mir der Name „Goettle“ wieder bewusst wurde … auch weil sich Kunze den Fauxpas erlaubt hatte, GG auf der Platte zwar zu erwähnen, sie aber als „Gerlinde Goettle“ bezeichnete. Meine Eselsbrücke, mir ihren Namen zu merken, war der göttliche Erzengel Gabriel: so prägt man sich Namen ein, Herr Kunze.- Heute wurde Gabriele Goettle 71 Jahre alt.

Mit besten Grüßen und Wünschen zur Besserung der Gesundheit

gez.

Rainer Sauer, Jena

Nachtrag von Dr. Lutz Mühlfriedel: „Der un/gewöhnlichen Autorin, die doch so oft und gerne das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen aufspürt, vollkommen angemessen scheint mir diese schöne Würdigung – den medialen Usus der runden bzw. halbrunden Jubiläen-Huberei bewusst übertretend – zum Einundsiebzigsten von GG. Wer Frau Gabriele bis jetzt noch nicht kennt, dem/r kann ich nur empfehlen: Lesen Sie Goettle! Wer sie bereits kennt und schätzt, dem/r empfehle ich das gleiche. Ich jedenfalls werde nun gleich mal wieder hineinschauen – in die Bände, auf deren Buchdeckel und -umschlägen das Siegel für literarisch-journalistische Qualität prangt: Gabriele Goettle.“


»Gabriele Goettles Texte flanieren zwischen Reportage, Erzählung und Essay. Sie enthalten Berichte von Frauen und Männern aus allen Bereichen der Gesellschaft, deren Berufe und Berufungen, Leiden und Leidenschaften die Autorin mit großem Gespür für die Probleme unserer Zeit, mit scharfer Präzision und Menschenfreundlichkeit zur Sprache bringt. Es sind Feinzeichnungen von Charakteren, die uns daran erinnern, dass die Meisterschaft der literarischen Physiognomik politische und ästhetische Sensibilität miteinander verbindet. Auf diese Weise hat Gabriele Goettle in den vergangenen Jahrzehnten eine Sammlung von Büchern vorgelegt, die sich zu einem eindringlichen physiognomischen Panorama unserer Zeit, unserer Gesellschaft verdichten. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht ihr den Johann-Heinrich-Merck-Preis für Kritik und Essay, weil sie die Zusammengehörigkeit beider Begriffe beispielhaft demonstriert.«

ert.«





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