Das Thema „Ausbeutung“ neu aufgerollt: FSU Doktorin durchleuchtet die Rolle von Laien in der Altenpflege
Dr. Tine Haubner von der Friedrich-Schiller-Universität Jena beleuchtet in ihrer jüngst erschienenen Dissertation „Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft. Laienpflege in Deutschland“ die gegenwärtige Ausbeutungssituation in der deutschen Pflege.
Die Mücke sticht und summt mit unserem Blut davon. Sie nutzt dieses, um Eier zu produzieren, dem Menschen bleibt nichts als der juckende Tatort zurück. Was in der Biologie Parasitismus heißt, könnte man in der Soziologie wohl am ehesten mit Ausbeutung betiteln. Seit den 1980er-Jahren wurde der sozialwissenschaftliche Begriff recht stiefmütterlich behandelt, doch Dr. Tine Haubner von der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU) hat ihn ganz bewusst wieder „aus der Schublade geholt.“ In ihrer nun beim Campus-Verlag erschienenen Dissertation „Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft. Laienpflege in Deutschland“ beleuchtet die Soziologin die gegenwärtige Ausbeutungssituation in der deutschen Pflege.
„Basal gesagt bedeutet Ausbeutung, dass sich eine Gruppe Vorteile auf Kosten einer anderen verschafft“, erklärt Haubner. Die Ausgebeuteten in ihrer Untersuchung, für die sie für den Deutschen Studienpreis 2017 der Körber-Stiftung nominiert ist, sind die ungeschulten Kräfte in der Altenpflege. ‚Nutznießer‘ sei der Staat, der das Geld stattdessen nicht in die professionelle Pflege investiert. „Die Laienpflege ist in Deutschland schon immer ein wesentlicher Stützpfeiler gewesen“, erzählt Dr. Haubner. Sie vertritt die, wie sie selbst sagt, „radikale These, dass die Pflegepolitik darüber hinaus seit Ende der 90er gezielt Laienpfleger rekrutiert mit dem Ziel der Kosteneinsparung.“
Für ihre qualitative Studie sprach sie mit Angehörigen, Ehrenamtlichen, Arbeitslosen und immigrierten Haushaltshilfen aus Osteuropa, die sich in der Pflege engagieren, sowie Experten und Arbeitgebern in Pflegeeinrichtungen. „Wenn Laien pflegen, Injektionen geben oder sogar Sonden legen müssen, überschreiten sie ihre eigene Kompetenz, und es kann zu medizinischen Fehlentscheidungen in Notsituationen kommen“, berichtet die gebürtige Erfurterin aus den geführten Interviews.
Ihrer Meinung nach kann Laienpflege professionelle Pflege nicht ersetzen, nur komplettieren: „Laienpfleger sollten nicht in die Lage kommen, tatsächlich zu pflegen, sie sollen betreuen und für die Pflegefälle da sein – aus einem Zustand der Sicherheit heraus und nicht aus einem des Mangels.“ Denn beispielsweise steige das Armutsrisiko an, wenn man für Angehörige sorgt: „Die durchschnittliche Pflegesituation in Deutschland dauert bis zu neun Jahren. Die in den vergangenen Jahren von der Bundespolitik durchgesetzten Ansprüche auf ein halbes Jahr Jobunterbrechung oder bis zu zwei Jahre reduzierte Arbeit führen an der Realität vorbei und sind letztlich ein Tropfen auf den heißen Stein“, erklärt die Jenaer Soziologin.
Angehörige stellen weit mehr als die Hälfte der Laienpfleger. Die meisten von ihnen sind weiblich, häufig über 60 Jahre – und damit in einem ebenfalls anfälligen Alter für physische und psychische Erkrankungen angesichts einer Belastung, für die sie nie ausgebildet wurden. Dass die Laienpflege wichtig und sinnvoll ist, will Haubner nicht in Abrede stellen, „doch Pflegeeinrichtungen gesetzlich zu erlauben, ihre Betreuung mit Laien aufzustocken ist nicht der richtige Weg. Oft werden diese dann in der Pflege eingespannt und arbeiten statt der im Arbeitsvertrag geregelten 20 Stunden pro Woche 35 und sind völlig ausgelaugt, obwohl sie kaum mehr als ein Taschengeld verdienen. Aufwand und Entlohnung stehen in keinem Verhältnis“, befindet Tine Haubner.
Angesichts massiv steigender Pflegekosten in der Zukunft wünscht sie sich ein Umdenken in der Pflegepolitik: „Immer mehr Menschen werden sehr alt und der immense Versorgungsbedarf geht einher mit wachsenden Anforderungen an Fachkräfte“, beschreibt sie. „Das kann und darf nicht auf dem Rücken von Laien ausgetragen werden. Vielmehr muss die professionelle Pflege attraktiver gemacht werden“, fordert sie. Mit ihrer Dissertation möchte die 33-Jährige nun denen eine Stimme geben, die sonst nicht gehört werden, weil sie sich im unsichtbaren, im privaten Bereich bewegen. Haubner interessiert sich schon lange für die Ränder der Arbeitsgesellschaft, die oft nicht im Fokus des öffentlichen Interesses stehen. Für ihre Magisterarbeit an der Universität Jena setzte sie sich mit körpersoziologischen Aspekten von langzeitarbeitslosen Frauen auseinander.
Seit April forscht sie an einem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Projekt gemeinsam mit Prof. Dr. Silke von Dyk und Dr. Emma Dowling von der Friedrich-Schiller-Universität zum Ehrenamt. Thematisch angesiedelt unter „Eine neue Kultur des Helfens oder Schattenökonomie? Engagement und Freiwilligenarbeit im Strukturwandel des Wohlfahrtsstaats“ kann sie darin an ihre Dissertation anknüpfen.
Bibliografische Angaben: Tine Haubner: „Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft. Laienpflege in Deutschland“, Campus-Verlag, Frankfurt/M. 2017, 495 Seiten, 39,95 Euro, ISBN: 978-3-59350-735-4
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