17 TAGE EUROPA: Donnerstag 2002-08-08 | ERWARTE DAS UNERWARTETE

08.08.17 • INTERESSANTES, JEZT AKTUELL, KULTUR & BILDUNG, STARTKeine Kommentare zu 17 TAGE EUROPA: Donnerstag 2002-08-08 | ERWARTE DAS UNERWARTETE

Der fünfzehnte Tag: Raststätte Hünxe/Köln-Hürth/Frankfurt am Main/Aschaffenburg/Wertheim

Losung am 8. August

„Der Mensch ist nun einmal nicht dazu geboren,
auf Erden ein vollkommenes Glück zu genießen.“
(Erasmus von Rotterdam)

Es regnet in Strömen…

(nachträgliche Einfügung vom September 2002: Über Mitteleuropa hatte sich schon Tag zuvor eine Schlechtwetterfront zusammengefunden, die ab den Morgenstunden des 8. August 2002 Richtung Alpen zog und in den Folgetagen und -wochen vornehmlich in Süd-, Mittel- und Osteuropa zu sintflutartigen Regenfällen, Unwettern und Schlammlawinen führte und damit großen Teilen Europas Verwüstungen, den Tod, Verzweiflung, Fassungslosigkeit und kaum wieder gut zumachenden Schäden brachte. In Deutschland und Polen wurden die Auswirkungen dieser Schlechtwetterfront spürbar als: „Großes Elbhochwasser„)

…als ich gegen 7 Uhr 30 in Hünxe losfahre. In Macon hatte ich mir eine CD von Kraftwerk gekauft mit Liveaufnahmen aus dem Jahre 1974. Die höre ich mir nun während der Autofahrt an und muss feststellen, dass „…wir fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“ auch ganz schön anstrengend sein kann.

Kurz vor Köln wird der Regen so stark, dass plötzlich nichts mehr voran geht. Die Wassertropfen, die auf das Auto schlagen, sind so dick wie kleine Meeresquallen und führen dazu, dass kein einziger Autofahrer auf der Autobahn weiterfahren will oder kann. Kraftwerk spielen gerade ihre „Kometenmelodie“ während das himmlische Wetterkraftwerk seine Schleusen noch eine Stufe stärker öffnet. Jetzt erlebt man, was es ist, wenn es sprichwörtlich „wie aus Eimern“ regnet. Ein unglaubliches Schauspiel.

JEZT - Rainer Sauer - 17 Tage Europa - Wasserflut auf der Autobahn bei Köln - 2002-08-08

Wasserflut auf der Autobahn bei Köln 2002-08-08

Die Autobahn fasst die Wassermassen nicht mehr, denn dafür wurde sie nicht gebaut. Eine Viertelstunde dauert das Schauspiel, dann ist die unsterbliche Natur wieder dazu übergegangen Gnade gegenüber uns Sterblichen walten zu lassen, denn es regnet nur noch in Strömen. Irritiert stelle ich fest, dass es bei Windstärken zwar eine Maßeinheit gibt, die es den Menschen erlaubt subjektive Einschätzungen zu finden. Für Regen gibt es eine solche nicht. Noch nicht. Die zukünftigen Klimaveränderungen auf unserer Mutter Erde werden dies aber noch notwendig werden lassen und Literangaben pro Qm sind ungeeignet, das unbändige Potential der Kraft des Niederschlags für den menschlichen Geist fassbar zu machen.

Dinge gibt es zwischen Himmel und Erde, die sich unser Verstand nicht vorstellen kann. Shakespeare hat dies so beschrieben und Goethe auch. Meine Interpretation dieser Metapher ist trivialer. Ich habe sie im Frühjahr zu Papier (respektive: in den Computer) gebracht und da ich sie bereits zu Anfang meiner Reisebeschreibung angedeutet hatte, scheint es mir jetzt die passende Gelegenheit um sie zu erzählen. Auch, weil ich angesichts des Regens soeben auf diesen nur in Form eines kleinen lyrischen Werkes reagieren kann, das ich am Ende des heutigen Tages anfüge.

Mein Werk für die Dinge, die sich zwischen Himmel und Erde abspielen ist…

DER BRIEF AUS NOWOSVETLONSK

»Nicht, dass Strelitz wirklich überrascht gewesen wäre, sie zu sehen. Nein. Aber es war die Art und Weise, wie sie sich ihm offenbart hatten, die ihn überraschte. Zwei junge Männer, offenbar Russen, der eine mit rasiertem Schädel, einen blauen Pullover tragend und durchtrainiert, der andere eher schmächtig, mit schwarzen Haaren, die aussahen, als habe sie ein Insekt angefressenen, und einer Vielzahl schmerzerregender Tätowierungen auf dem nackten Oberkörper, übergaben ihm eine längliche braune Ledertasche, in der sich offensichtlich ein Radiogerät befand und aus der die Ecke eines Briefes hervor schaute.

Und richtig: Es war eine Art Kofferradio, auf ihm stand zu lesen ‚Кocmohabt‘. Gerade als Strelitz versuchte, der ganzen Sache einen Sinn abzugewinnen sprach ihn aus dem Lautsprecher des Kofferradios eine nette Frauenstimme an – ganz so wie man es aus dem Off der ‚Sendung mit der Maus‘ kennt – und sagte: „Das ist Russisch und heißt Kosmonaut“.

Wortlos setzten sich die beiden Besucher nun auf das Bett in Strelitzens Hotelzimmer und schauten ihn erwartungsvoll an. „Ist das für mich?“ fragte er sie, um die Situation etwas aufzulockern und deutete auf das Kofferradio. Die beiden nickten. Strelitz betrachtete sich das Kofferradio; es schien aus der ehemaligen Sowjetunion zu stammen, war in einer Art brauner Lederverkleidung eingepackt und hatte nur Mittelwelle und Kurzwelle. Dann schaute er sich den Brief näher an. Auf der Vorderseite des Umschlags stand ein Satz, der mit „Przechowywac w chlodnym i suchym miejscu…“ begann. Strelitz fragte sich, was dies zu bedeuten habe und erhielt erneut unerwartete Hilfe durch das Radio. „Das ist Polnisch“, sagte die Sprecherin und lieferte ihm erneut die Übersetzung gleich mit: „An einem trockenen Ort lagern und vor Wärme schützen.“

JEZT - Rainer Sauer - 17 Tage Europa - Der Brief aus Nowosvetlonsk - Der rasierte SchädelAh, dachte er, deshalb hatten die beiden wohl abgewartet, bis Strelitz im Hotelzimmer angekommen war, denn draußen regnete es ohne Ende. „Kommen Sie aus Polen?“ fragte er seine Besucher. „Noi“ sagte der rasierte Schädel und fügte an „Нobovletloncka“. Der andere Besucher nickte zustimmend und holte aus einem Beutel, den er neben das Bett gestellt hatte, eine Flasche ‚Baltica‘-Bier, öffnete den Kronkorkenverschluss mit einem Schlag auf die Bettkante und hielt Strelitz die Flasche entgegen. Ach so läuft die Sache, dachte der sich und ihm fiel Arthur Dent und das bevorstehende Ende der Welt ein; lediglich die Erdnüsse fehlten noch. „Kommen Sie vielleicht aus dem Baltikum?“ fragte Strelitz den rasierten Schädel und ignorierte das Angebot des Schmächtigen. „Noi!“ sagte der rasierte Schädel nochmals, diesmal aber wesentlich bestimmter: „Нobovletloncka!“.

Nun versuchte es Strelitz mit Smaltalk. „Wissen Sie, ich kenne mich bei den Städten Osteuropas nicht so gut aus“, entgegnete er. „Wo liegt denn Nowa … äh … svetlanska?“ „Nowosvetlonsk“ korrigierte ihn diesmal das Radio, während der Schmächtige auf den Brief deutete. „Dies sollten Sie lesen“, riet ihm das Radio daraufhin.

Strelitz nahm nun den Brief aus der Ledertasche. Zu seiner Überraschung war auf der Rückseite des Umschlags „Für Strelitz“ zu lesen und als Absender war angegeben „Die Einhandesser“. Er öffnete den Umschlag, entnahm den darin enthaltenen Brief und entfaltete ihn.

„Grüß Dich“, stand da zu lesen. „Du wunderst Dich vielleicht, von uns so einen Brief zu erhalten, aber so ist das manchmal im Leben. EXPECT THE UNEXPECTED! Du hast uns erschaffen und die Geister, die man rief …“. – Strelitz war irritiert und interessiert zugleich und er laß weiter. „Also am Besten gleich zum Grund für unser Schreiben an Dich:

Schön viele Dinge und Ideen hast Du fabriziert, aber das EINE fehlt noch. Dabei ist es so einfach! Es fehlt Dir ein Lebenskonzept. Gut, dies wusstest Du und das wussten wir ja schon lange. Aber, dass Dir das Konzept sozusagen auf der Hand oder in Deiner Hand liegt, das scheinst Du nicht zu wissen. Es ist DIE ZEITMASCHINE.

JEZT - Rainer Sauer - 17 Tage Europa - Der Brief aus Nowosvetlonsk - Der SchmächtigeKeine Frage: Ihr Deutschen seid so toll in wissenschaftlichen Dingen, kämpft zweimal gegen die ganze Welt, werdet jedes Mal besiegt, und doch kommt ihr beide Male mächtiger zurück als zuvor. Also wer auf der Welt sollte die Zeitmaschine bauen, außer ein Deutscher? Und niemandem anderen außer Dir würde man das abnehmen. Und – unter uns gesagt – Du solltest es Dir auch von keinem anderen abnehmen lassen.

Deine Arbeit an DER ZEITMASCHINE würde zudem all Deinen Bewunderern die kreative Pause erklären helfen, die Du schon so lange geplant hast, aber auf Rücksicht auf sie nicht umsetzen willst. Mit der Zeitmaschine würdest Du unsterblich werden können – und glaube uns: Du kannst es!

Später würde dann vielleicht sogar ein Spektakel daraus werden. Wer kann so etwas schon ermessen? Eigentlich nur Du allein: Mastermind Strelitz; kein Christus mehr von Nazareth, sondern Petruski, ein Missionar in eigener Sache (und natürlich nationalen Angelegenheiten und Affären). Ein Ziel, für das es sich zu leiden lohnt!

Und es ist unbestritten, dass Du es schaffen kannst und es auch schaffen wirst. Deine westdeutschen Bewunderer werden Dich ewig lieben und die Ostdeutschen werden Dir zu Füßen liegen. Denn nichts geringeres erwarten sie von Dir als: DIE ZEITMASCHINE. – Denk darüber nach.

Mehr können wir derzeit nicht für Dich tun.

Mit formidablen Grüßen

Deine Einhandesser“

„M8“ – Grafik von John Burgess © 1983

Strelitz blickte auf. Dort, wo gerade noch die beiden Russen auf seinem Hotelbett gesessen hatten, waren jetzt nur noch zwei Abdrücke in der Bettdecke zu sehen. Nur die Flasche ‚Baltica‘-Bier stand nach wie vor auf dem Boden. Strelitz versuchte sich zu erinnern, was geschehen sein konnte, während er den Brief gelesen hatte. Der Text hatte sein Interesse so sehr für sich eingenommen, dass er gar nicht mehr richtig auf seine ungebetenen Gäste geachtet hatte.

Richtig! Der rasierte Schädel mit der Goldkette hatte die Bierflasche gerade angesetzt, als er begonnen hatte, den Brief zu lesen. Und nachdem er die ersten Zeilen gelesen hatte, war er etwas irritiert gewesen und konnte sich nur dunkel daran erinnern, dass der Schmächtge die Flasche übernommen hatte um ebenfalls etwas daraus zu trinken. Strelitz blickte nun auf den Tisch. Dort stand immer noch das Kofferradio.

Er ging zu dem Radio, schaltete es ein und hörte aus der Ferne zwischen kratzenden Geräuschen und atmosphärischem Pfeifen Jon Anderson singen „… I feel lost in the City …“ gefolgt von den letzten Takten aus „Heart Of The Sunrise“. Strelitz betrachtete sich nun das Radio in Ruhe. Auf der Skala des Radios war die Sendefrequenz eingestellt: Mittelwelle 531 Khz. In diesem Moment kamen ihm Erinnerungen aus seiner Jugendzeit. War nicht auf der Frontscheibe seines alten Grundig Radios, das er bereits vor Jahrzehnten zum Sperrmüll gegeben hatte, bei 531 Khz neben dem Schweizerischen Landessender ‚Beromünster‘ auch das Wort ‚Nowosvetlonsk‘ aufgedruckt gewesen?

Doch wer zum Teufel sind diese verdammten „Einhandesser“? Und weshalb waren heute die eiligen zwei Könige zu ihm gekommen. Hatten die sich vielleicht sogar im Stall geirrt. Strelitz blickte noch einmal auf den Brief, aber dort stand ohne jeden Zweifel sein Name zu lesen. Doch, doch, dahte er sich, man hatte zu ihm gewollt und zu niemandem anderem.

Strelitz nahm das Kofferradio vom Tisch, las noch einmal ‚Kocmohabt‘, musste unwillkürlich darüber schmunzeln, dass es ein Kofferradio für Kosmonauten gibt, legte den Brief vorsichtig ganz nach unten in seine Sporttasche, packte das Radio und seine anderen Dinge hinzu, bezahlte an der Rezeption so unauffällig wie möglich die Rechnung und verließ dann eilig das Hotel.

Auf der Uhr in der Lobby konnten er im Vorbeigehen die Zeit lesen. Es war 16 Uhr 23.«

JEZT - 17 Tage Europa - Zufahrt zu den Magic Media Studios im Januar 2003

Zufahrt zu den Magic Media Studios in Hürth – 2003-01-28

Bei mir und im heute ist es kurz vor 10 Uhr als ich mich entschließe, Köln-Hürth einen kleinen Besuch abzustatten. In Köln-Hürth befinden sich die Magic Media-Studios, die Heimat vieler deutscher TV-Sendungen von der klassischen Tratsch- und Talkshow bis hin zu Stefan Raabs „TV-Total“. Der Zenit des Erfolges der Studios scheint mir bereits überschritten, also ist das Gelände gerade richtig für weitere Inspirationen meiner „Tausand Träume“. Schon wenige Minuten später bin ich in Hürth (das Köln hören die Hürther nicht so gerne – wie ich gehört habe – denn sie fühlen sich eigenständig) und suche den „größten Medienstandort Europas“, wie er sich unbescheiden selbst benennt.

Um 11 Uhr suche ich ihn noch immer und bin doch schon, ohne es zu wissen, drei Mal an ihm vorbei gefahren, wie sich später herausstellt. Als ich Magic Media dann gefunden habe muss ist feststellen, dass mir die „Big Brother“-Weitwinkelobjektive der Firma Endemol bisher ganz offensichtlich einen Streich gespielt haben. Der Magic Media-Studiokomplex ist so klein, dass er in jedem der vier Gewerbegebiete Jenas ausreichend Platz gefunden hätte.

Zudem hält sich das Flair des Medienstandortes im Moment, ebenso wie der Himmel, recht bedeckt: es ist Sommerpause. Aber andererseits bekomme ich so einen perfekten Einblick in eine schon etwas überalterte High-Tech-TV-Produktionsanstalt im Sommerschlaf. Die nächste Geschichte für ein Buch, das ich noch nicht geschrieben habe, ist damit schon so gut fertig. Man muss eben nur mit offenen Augen und viel Phantasie durch die Welt laufen, wie es Hanns Dieter Hüsch so treffend sagte. Dann ist alles möglich.

Weiter geht die Fahrt an diesem Tag nach Wertheim, einem Städtchen an der Mündung von Main und Tauber, in welchem ich die letzten Tage meiner Europareise verbringen werde. Um 15 Uhr bin ich dort, nicht ohne, nachdem ich Wiesbaden passiert habe, nochmals eine, diesmal aber wesentlich abgeschwächte, Version des morgendlichen Regenschauspiels erleben zu dürfen. Und schon wieder halten die Autofahrer an. Ein passender Moment also für mein Schlussgedicht:

Ihr Narren!
Wie könnt ihr bei solch einem Guß
überhaupt an ein Verweilen denken?
Wenn ihr hättet gesehen, was ich einst erlebte,
ihr würdet die Häupter senken.
Ein Strom mit unendlicher Fülle warf sich auf die Erde herab,
ich sah die Flut mit Grausen und mich in einem feuchten Grab.

Doch die Wut des Himmels brachte noch mehr Tosen, noch mehr Urgewalt
und so mächtge Wassermassen, dass mein Hilferuf tonlos verhallt.
Dreißig Tage, dreißig Nächte Regen und kein End‘ ist zu sehn.
Mensch der du dies miterlebtest, du weißt:
Es wird bald zu Ende gehen!

Wenn ihr hättet gesehen, was ich einst erlebte
ihr würdet die Häupter senken.
Ihr Narren, wie könnt ihr bei solch einem Guss
überhaupt an ein Anhalten denken?





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