„04.11.2011 / 04.11.2017“: In München geht der „NSU“-Prozess zu Ende – Eine Zusammenfassung der wichtigsten Momente
Im Rahmen ihrer ausdauernden Berichterstattung über den „NSU“-Prozess vor dem OLG München haben „JEZT“ und unser Vorgängerblog „Lichtstadt News“ Dutzende von Artikeln veröffentlicht. Hier folgt eine kleine Zusammenfassung des Prozesses zum bisherigen Stand.
04.11.2011: Mit dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhrdt in Eisenach sowie der von Beate Zschäpe herbeigeführten Explosion der Wohnung in Zwickau kam das Ende der bis dahin unbekannten rechtsterroristischen Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“. Am 08.11.2011 stellt sich Beate Zschäpe in Jena der Polizei, wenig später werden Holger Gerlach, Carsten Sch#ltz#, Ralf Wohlleben und André Em#ng#r als Mitwisser und Helfer des „NSU“ festgenommen.
06.05.2013: Der „NSU“-Prozess beginnt. Beate Zschäpe betritt den Verhandlungssaal im OLG München und dreht den Fotografen demonstrativ den Rücken zu und schweigt gegenüber dem Gericht – dies wird sie danach viele Monate lang immer wieder so machen. Bevor es zur Verlesung der Anklageschrift kommt werden erste Befangenheitsanträge gegen das Gericht gestellt, die später abgelehnt werden – auch dies wird sich zukünftig stetig wiederholen.
04.06.2013 (= 4. Verhandlungstag): Der im Prozess mitangeklagte Carsten Sch#ltz# sagt aus, weint, stottert, windet sich. Sch#ltz# soll laut Anklage Mordhelfer sein und er gesteht, im Jahr 2000 die Tatwaffe Ceska 83 inklusive Schalldämpfer gekauft und an den „NSU“ geliefert zu haben. Mit der Pistole haben Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt neun Migranten erschossen haben. Ssch#ltz# sagt dem Gericht, er habe dies nur getan, um bei den rechten Kameraden Anerkennung zu bekommen, um die er wegen seiner Homosexualität gefüchtet habe. Später sei er „aus der Szene“ komplett ausgestiegen und habe rechter Gesinnung abgeschworen. Allerdings habe er in Jahren nach 2000, wenn wieder einmal eine Meldung durch die Medien ging, dass ein Migrant mit einer schallgedämpften Pistole Ceska 83 getötet worden war, an die Waffenlieferung denken müssen und geahnt, dass es möglicherweise die von ihm gelieferte Pistole war.
Kurz danach lässt Holger Gerlach durch seine Anwälte eine Erklärung verlesen, wonach er den „NSU“ durch die Überlassung von Ausweisdokumenten (= Führerschein, Reisepass, Krankenkassenkarte) unterstützt habe. Auf seinen Namenangmietete Fahrzeuge, die später u.a. zu Monrdanschlägen genutzt worden waren, habe er nicht selbst angemietet sondern Uwe Böhnhardt, der sein eigenes Aussehen dem von Gelach auf den Dokumenten angepasst hatte. Auch der im Untergrund genutzte Deckname „Gerry“ für Uwe Böhnhardt gehe wohl auf die von diesem genutzten „Holger Gerlach“-Dokumente zurück, so Gerlach vor Gericht.
08.06.2013 (= 8. Verhandlungstag): Sch#ltz# liefert dem Oberlandesgericht einen Hinweis auf einen weiteren Bombenanschlag, den Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt 1999 in Nürnberg verübt haben sollen. Die Bundesanwaltschaft veranlasst eine Überprüfung und ordnet die Tat später dem „NSU“ zu. Carsten Sch#ltz# bleibt damit der einzige Angeklagte, der sich persönlich umfangreich, plausibel und konstruktiv zu den Vorwürfen im Zusammenhang mit dem „NSU“ äußert.
01.10.2013 (= 41. Verhandlungstag): Es wird emotional vor Gericht. Zuerst tritt der Vater des 2006 in Kassel erschossenen Halit Yozgat in den Zeugenstand. Böhnhardt und Mundlos ermordeteen den 21-Jährigen in seinem Internetcafé, er starb in den Armen seines Vaters. Ismail Yozgat weint und gestikuliert, schreit Beate Zschäpe an: „Mit welchem Recht haben Sie mein Lämmchen getötet?“ Direkt darauf tritt Verfassungsschützer Andreas Temme in den Zeugenstand, der genau zur Tatzeit am Tatort in Yozgats Internetcafé war, aber trotz erdrückender Indizien (bis heute) bestreitet, irgend etwas von dem Mord gewusst oder mitbekommen zu haben. Er besteht darauf, dass er damals während der Dienstzeit heimlich mit einer Geliebten gechattet habe und den Tatort aus purem Zufall kurz nach dem Mord verließ, ohne dabei den Ermordeten oder die Täter zu sehen.
16.07.2014 (= 128. Verhandlungstag): Beate Zschäpe erklärt dem gericht, dass sie ihren Anwälten nicht mehr vetrauen könne, beantragt gleichzeitig, ihre Pflichtverteidiger Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm von deren Aufgaben zu entbinden. Die presse stellt Vermutungen an, Zschäpe wolle aussagen, fühle sich aber von den Verteidigern daran gehindert – eine Vermutung die sich jedoch erst ein Jahr später bestätigen sollte. Das OLG entscheidet: Die staatlich bestellten Pflichtverteidiger bleiben für die Angeklagte verantwortlich – trotz mehrerer Entpflichtungsanträge und einer Strafanzeige, die Zschäpe in den Folgemonaten stellt.
02.10.2015 (= 232. Verhandlungstag): Das Gericht erfährt, dass es eine der rund 80 NebenklägerInnen gar nicht gibt. Diese wurden von den Anwälten von Mordopfern und Verletzte der „NSU“-Taten beim Prozess angemeldet, darunter eben auch eine gewisse „Meral Keskin“, ein vorgebliches Verletzungsopfer des „NSU“-Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße. Eine Recherche hatte jedoch ergeben: Das vermeintliche Opfer wurde von einem echten Geschädigten des Anschlags erfunden und gegen Provision an einen Anwalt vermittelt. Gegen beide ermittelt die Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen laufen bis heute.
09.12.2015 (= 249. Verhandlungstag): Beate Zschäpe sagt aus, jedoch nicht sie selbst, sondern die von Zschäpe neu berufenen Verteidiger Mathias Grasel und Hermann Borchert, die im Namen ihrer Mandantin Zschäpes Erklärungen verlesen. Damit bricht die Hauptangeklagte im „NSU“-Prozess ihr zweieinhalb jähriges Schweigen, behauptet aber vor Gericht, ihr Freund Uwe Mundlos und ihr Lebensgefährte Uwe Böhnhardt hätten sie stets erst im Nachhinein von den Morden; Bombenanschlägen und Raubüberfällen erzählt. Das sie, so Zschäpe in ihrer Aussage, von beiden emotional abhängig gewesen sei, zudem alkoholkrank, teilweise auch körperlich mißhandelt wurde, habe sie nichts unternehmen können, um die Gewaltherrschaft des „NSU“ zu beenden. Möglicherweise ein taktisches Manöver, dass sich auch dadurch zeigte, dass Zschäpe zwar Dinge zugab, jedoch immer erst, wenn hieran vor Gericht kaum noch Zweifel daran bestanden. Nachfragen zu ihren Aussagen akzeptierte Zschäpe ausschließlich von Seiten des Gerichts und dann auch nur mit mehreren Tagen Bedenkzeit zwischen Frage und Antwort.
16.12.2015 (= 251. Verhandlungstag): Auch der als Haupthelfer des „NSU“ mitangeklagte Jenaer Ralf Wohlleben scheint taktisch zu agieren. Er hatte zuvor erklärt, dass er vor Gericht aussagen möchte, jedoch erst, wenn Beate Zschäpe ihre Aussage beendet hat. Nur zwei Sitzungstage nach Zschäpes Aussage ergreift er schließlich persönlich das Wort und verliest eine Aussage. Wohlleben erklärt, keineswegs der Auftraggeber der Beschaffung der Mordpistole Ceska 83 über den Boten Carsten Sch#ltz# gewesen zu sein, hiervon jedoch gewusst zu haben. Insgeheim habe er darauf gebaut, dass der Kauf der Waffe nicht zustande komme, denn er habe er geglaubt, Uwe Böhnhardt wolle die Pistole für einen Suizid nutzen. In den folgenden Prozesstagen beantwortete Ralf Wohlleben bereitwillig Fragen, erklärt aber wiederholt, er habe nicht geahnt, dass die Waffe für Mordanschläge genutzt werden sollte oder worden war.
29.09.2016 (= 313. Verhandlungstag): Zschäpe spricht erstmals selbst vor dem Oberlandesgericht München. Völlig überraschend verliest sie ein weniger als zwei Minuten dauerndes Statement, in dem sie erklärt, sie hege „keinerlei Sympathien für nationalistisches Gedankengut“ mehr und verurteile alle Taten, die ihre Freunde Mundlos und Böhnhardt verübt hätten.
18.01.2017 (= 337. Verhandlungstag): Der Psychiater Henning Saß erklärt Beate Zschäpe für in vollem Umfang schuldfähig. Er hat den Prozess verfolgt und die Angeklagte intensiv beobachtet. Das Fazit seines Gutachtens: Zschäpe wusste entgegen ihrer Aussage von den Morden und sie unterstützte die Taten. Zudem habe Zschäpe seit ihrer Jugend eine Neigung zur Kriminalität, sei in Freiheit daher als gefährlich einzustufen. Damit legte Saß dem OLG nahe, im Fall einer Verurteilung auch die anschließende Sicherungsverwahrung gegen Zschäpe zu verhängen. Deren Verteidiger kämpfen in den folgenden Monaten mit allen erdenklichen Mitteln gegen das Gutachten – bis zum heutigen Tag erfolglos. Unter anderem wird hierbei ein eigens verpflichteter Gutachter der Zschäpe-Anwälte vom Gericht abgelehnt, da er eine „zu große Nähe“ zu Beate Zschäpe entwickelt hatte.
25.07.2017 (= 375. Verhandlungstag): Das Plädoyer der Bundesanwaltschaft beginnt und in dem mehrere Tage dauernden Schlussvortrag machen die Ankläger deutlich: Die Anklage hat sich aus ihrer Sicht im vollen Umfang bestätigt. 1.) Zschäpe betätigte sich als Mittäterin bei allen Taten des „NSU“, verwaltete die Finanzen der Gruppe, hütete durch Kontakte mit den Nachbarn die bürgerliche Fassade der Terroristen und zündete am Schluss die gemeinsame Wohnung des Trios an um alle Spuren zu verwischen. Hier scheint eine mehr als lebenslängliche Strafe denkbar, denn Oberstaatsanwältin Anette Greger schloss ihre juristische Bewertung Zschäpes mit dem Satz: „Die rechtlichen Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung liegen grundsätzlich bei der Angeklagten vor.“ Auch die anderen Angeklagten seien voll umfänglich schuldig, so die Bundesanwaltschaft, müssen deshalb mit der Forderung nach hohen Haftstrafen rechnen. Bei Carsten Sch#ltz#, der sich mittlerweise in einem Zeugenschutzprogramm befindet, könnte es aber zu einer geringeren Strafe kommen, der ja bereits zu Beginn gestanden und kooperiert hatte.
24.10.2017 (= 384. Verhandlungstag): Nach einer Serie von Befangenheitsanträgen und zwei wochenlangen Unterbrechungen wurde Ende Oktober 2017 der Münchner „NSU“-Prozess fortgesetzt. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl teilte zu Beginn des 384. Verhandlungstages mit, dass nun auch der letzte noch ausstehende Befangenheitsantrag gegen ihn und weitere Richter des Oberlandesgerichts abgelehnt worden sei. Insgesamt waren seit dem Abschluss des Plädoyers der Anklage rund ein Dutzend Befangenheitsanträge gestellt und abgelehnt worden. Nun beginnen die Plädoyers der Nebenkläger … dachte man. Allerdings stoppte der Em#ng#r-Anwalt erneut den Prozess mit einem weiteren Befangenheitsantrag. Weshalb machte er das? Befangenheitsanträge seien „ein legitimes Mittel, um einen Prozess in die Länge zu ziehen oder im Extremfall zum Platzen zu bringen“, schreibt Marcel Fürstenau von der Deutschen Welle. Das NSU-Verfahren biete insofern „viel Anschauungsunterricht“, so der Journalist.
Lesen Sie zum Thema auch unsere Mini-Serie „Beate Zschäpe: Wie sie wurde, was sie heute ist“!
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